Besuch in der Körperfabrik

Eine US-Firma baut täuschend echte Dummys für die medizinische Ausbildung – und trifft damit auf eine Marktlücke.

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Besuch in der Körperfabrik

(Bild: SynDaver Labs)

Lesezeit: 10 Min.
Von
  • Katja Ridderbusch
Inhaltsverzeichnis

Herz, Leber, Gehirn. Sehnen, Muskeln, Nervenstränge. Haut und Fett, Schädel und Schlüsselbein, Arterien und Venen, Zungen. Wer das unauffällige Gebäude am Rand von Tampa in Florida betritt, in der Nähe einer breiten Ausfallstraße zwischen Lagerhäusern und Datenzentren, muss sich wappnen. Er landet in einer irren Mischung aus kreativer Requisiten-Werkstatt, surrealer Klonmanufaktur und Frankensteins Labor.

Auf Regalen reihen sich Gussformen und Abdrucke von Körperteilen. Dutzende von 3D-Druckern surren geschäftig. Eine Halle weiter werkeln Mitarbeiter, die meisten jung, mit Tattoos, Piercings und Headphones, an Knochen, Muskeln, Blutgefäßen und Organen – mit Pinseln, Schabern, Pinzetten und Lötlampen. Auf den Tischen stehen Kochtöpfe, rote, braune und gelbe Flüssigkeiten schwappen über die Ränder. Daneben liegt, auf Küchenpapier, ein Gehirn, milchig weiß und feucht, mit dunkelrot schimmernden Adern.

Es gibt kaum ein Organ oder Gewebe, das Christopher Sakezles in seinem Labor nicht herstellen kann – bis hin zum kompletten Menschen, und das alles aus Wasser, Salz und Faserstoffen. Er ist Gründer und CEO von SynDaver Labs und Schöpfer synthetischer Menschenkörper. Er baut nicht etwa Requisiten für Hollywood (auch wenn sein künstlicher Mensch Gastauftritte bei "Grey's Anatomy" und anderen US-Fernsehserien hatte), sondern für die Wissenschaft. Seine Produkte kommen bei der Ausbildung von Ärzten, Pflegern und Sanitätern zum Einsatz sowie in der Forschung. SynDaver ist nicht das erste und nicht das einzige Unternehmen, das anatomische Modelle, animierte Trainingspuppen und interaktive Simulatoren entwickelt.

Unter den Wettbewerbern sind das norwegische Unternehmen Laerdal und 3B Scientific aus Deutschland. Doch SynDaver behauptet von sich, "fundamental anders" zu arbeiten. Da ist durchaus etwas dran. "Wir bauen echtes Gewebe in seinen zahlreichen und komplexen Details nach", so Sakezles. Und zwar möglichst so, dass die Kopie nicht nur so aussieht und sich so anfühlt, sondern vor allem: sich auch so verhält wie das Original. Der Name SynDaver, eine Kurzform von "synthetischer Kadaver", sei eigentlich nicht ganz richtig, sagt Sakezles, denn die Produkte wollten keine Toten nachbauen, sondern Lebende.

Dummys für die medizinische Ausbildung (9 Bilder)

Ganzkörpermodelle gibt es ab 70.000 Dollar. Weil sie haltbarer sind, kann das langfristig günstiger sein als menschliche Leichen.
(Bild: SynDaver Labs)

Sakezles (sprich: Säkelies) – 53, groß, jungenhafter Typ – trägt einen dunkelblauen OP-Kittel und weiße Sportsocken. Schuhe wird er den ganzen Besuch über nicht anziehen. Er ist selbstsicher auf eine lakonische Weise, hat entweder ein sehr ernstes Naturell oder einen staubtrockenen Humor. Jedenfalls ist ihm während des Gesprächs kaum ein Lachen zu entlocken.

Andererseits: Was ist schon lustig an einem Produktkatalog mit mehr als 200 Einzelteilen menschlicher oder tierischer Körper? Bestellen kann man Fettlappen für 39 Dollar, eine Herzklappe für 198 Dollar, einen Dickdarm für 499 Dollar, einen Satz arterieller Blutgefäße für 5500 Dollar und – als Flaggschiff – komplette synthetische Menschen. Sie kosten zwischen 70.000 und 180.000 Dollar und kommen je nach Bedarf als anatomische oder chirurgische Teil- oder Ganzkörpermodelle, als Mann oder Frau, Hund oder Katze, mit oder ohne Haut.

Sie haben Skelett, Muskeln, Organe, Sehnen, Nerven und Blutgefäße. Modelle für das Training von Operationen und für die Notfallversorgung haben dank integrierter Pumpen und Sensoren einen Herzschlag und einen Blutdruck, sie können atmen, bluten und mithilfe einer Software, die auf verschiedene Szenarien programmiert ist, in einen Schockzustand fallen.

Neben den Katalogprodukten fertigt SynDaver auch maßgeschneiderte Körperteile, oft hochspezialisierte Auftragsarbeiten. Gerade entwickelte das Unternehmen für die Harvard-Universität ein weibliches Becken im Zustand unmittelbar nach der Geburt, zum Test neuartiger Ballonkatheter zur Behandlung von Gebärmutterblutungen. "Selbst hochwertige Standardmodelle helfen uns dabei nicht", sagt Projektleiter Thomas Burke, Notfallmediziner am Massachusetts General Hospital in Boston, dem Lehrkrankenhaus von Harvard. Deshalb beauftragte er SynDaver. Sein Urteil: "Das synthetische Gebärmuttergewebe fühlt sich fast unheimlich echt an."

Die Idee für seine Firma kam Sakezles am Ende seines Studiums. Der Ingenieur mit Schwerpunkt Werkstoff- und Polymerwissenschaften arbeitete an der Entwicklung eines neuartigen Intubationsschlauchs. Die künstliche Luftröhre, die sein Doktorvater bestellte, sei "ein Witz" gewesen: eine Röhre aus Hartplastik, völlig unbrauchbar, um das Gerät halbwegs realistisch zu testen. Er entwickelte sein eigenes Modell aus Kunststofffasern. Aber erst nach einem Intermezzo als Angestellter verschiedener medizintechnischer Firmen machte er sich selbstständig und begann, synthetische Gewebe zu entwickeln. In den ersten Jahren arbeitete er allein, in einer Garage zwischen Werkbank und Waschmaschine, hielt sich mit Kleinkrediten von Freunden und Familienmitgliedern über Wasser.

2009 fühlte er sich schließlich bereit, SynDaver zu gründen und Mitarbeiter anzuheuern. Die ersten Kunden waren medizintechnische Unternehmen, aber im Laufe der Jahre kamen immer mehr Colleges und Universitäten hinzu, darunter Harvard, Yale und Stanford. Außerdem das US-Militär. Heute hat SynDaver gut 100 Mitarbeiter. Unter ihnen sind neben Ingenieuren, Chemikern, Betriebswirten und Sanitätern auch ein Veterinär sowie Künstler und Designer. Der Umsatz des Unternehmens wächst Sakezles zufolge jedes Jahr um 60 Prozent, und in ein paar Jahren will er an die Börse gehen.

Wie sie hergestellt werden und aus welchen Bestandteilen die synthetischen Gewebe genau bestehen, ist Betriebsgeheimnis. "Wasser, Salz und Kunstfaserstoffe" lautet Sakezles' Standardformel. Alle Gewebe seien im Prinzip aus Verbundmaterial gefertigt, sagt er. Die Zusammensetzung richte sich nach den physikalischen Eigenschaften des Originals und danach, wozu das Gewebe dienen soll: "Ist es besonderem Druck ausgesetzt, soll es dehnbar, abrieb- und einstichfest sein?"