KI-nesische Aufholjagd

Bislang hat China keine ernst zu nehmende Chipindustrie. Mit der Entwicklung von Spezialchips für die künstliche Intelligenz könnte sich das ändern.

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KI-nesische Aufholjagd

(Bild: Cambricon)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Will Knight

Seit wann spricht Donald Trump Chinesisch? In Tianjin, etwa eine Autostunde südlich von Peking, in einem glänzenden Bürogebäude hinter gut bewachten Toren, präsentiert das chinesische Unternehmen iFlytek Aufnahmen des US-Präsidenten auf einem großen Fernseher. In den höchsten Tönen – und in fließendem Mandarin – lobt Trump die Fortschritte des Unternehmens. Jedenfalls sind es Trumps Stimme und sein Gesicht, aber die Aufnahme ist natürlich gefälscht – eine selbstbewusste Demonstration der KI-Technologie, die iFlytek gerade entwickelt.

Jiang Tao lacht und weist den Weg zu weiteren Vorführungen. Während der gesamten Tour nutzt Jiang, einer der Mitbegründer des Unternehmens, ein tragbares Gerät, das seine Worte fast sofort vom Mandarin ins Englische übersetzt.

Der Übersetzer von iFlytek zeigt KI-Fähigkeiten, die weltweit konkurrenzfähig sind. Aber er weist auch auf ein großes Problem hin in Chinas Plan, bis 2030 weltweit führend in der KI zu sein. Denn die Software in dem Gerät wurde zwar von iFlytek entwickelt, aber die Hardware – die Mikrochips, die die Algorithmen zum Leben erwecken – haben andere konstruiert und hergestellt. Während China die meisten elektronischen Geräte der Welt produziert, ist es der chinesischen Regierung bislang nicht gelungen, die Abhängigkeit von ausländischen Chipherstellern zu durchbrechen. Allerdings könnte die KI das nun ändern. Denn um die Fortschritte im maschinellen Lernen voll ausschöpfen zu können, müssen die Prozessoren die Daten auf eine grundlegend andere Weise verarbeiten als jene, die seit Jahrzehnten üblich ist.

In diese Lücke will China nun vorstoßen – fast 60 Jahre nachdem es den Anschluss an die Chip-Weltspitze verloren hat. Denn das Land war ganz vorn mit dabei, als die Entwicklung ihren Anfang nahm. Bereits Ende der 1950er-Jahre – kurz nach der Erfindung in den USA – bauten chinesische Forscher die ersten eigenen Transistoren. Aber das Land fiel in den Turbulenzen der Kulturrevolution zurück. In den 1960er-Jahren, als die Halbleiterindustrie im Silicon Valley aufblühte, lag Chinas noch junge Chipindustrie in Trümmern. Als sich die chinesische Wirtschaft in den 1980er-Jahren öffnete, war es zu spät.

Der Rückstand ist bis heute nicht aufgeholt. Mark Li, Analyst bei der Vermögensverwaltungsgesellschaft Bernstein, beobachtet seit Jahren die Chipindustrie in Asien. Er schätzt, dass Chinas modernste Chiphersteller technisch gegenüber der globalen Konkurrenz immer noch mindestens fünf Jahre im Rückstand sind. Da die Leistungsfähigkeit von Chips sich etwa alle zwei Jahre verdoppelt, ist das eine große Lücke. China verfügt zwar über zahlreiche Low-End-Fabriken, die relativ einfache Chips produzieren, etwa für Smart Cards, SIM-Karten oder einfache Telefone. Aber es besitzt keine Fabriken, um fortschrittlichere Prozessoren herzustellen. "Es wird lange dauern, bis wir aufgeholt haben", sagt auch Yungang Bao, Direktor des Center for Advanced Computer Systems an der Chinesischen Akademie der Wissenschaften und Experte für Mikroprozessor-Design.

Um die Aufholjagd einzuleiten, hat die Regierung bereits 2014 den National Integrated Circuits Industry Investment Fund gegründet. Der Fonds bündelt Gelder von lokalen Regierungen und staatlichen Unternehmen, die dann in ausgewählte Unternehmen investiert werden. 2018 sammelte er erneut rund 16 Milliarden Euro ein, um sie vor allem in die chinesische Chipindustrie zu stecken. 2015 veröffentlichte die Zentralregierung in Peking zudem das Strategiepapier "Made in China 2025", ein umfassendes Konzept für die Modernisierung der gesamten chinesischen Fertigungsindustrie. Darin wurde das äußerst ehrgeizige Ziel gesetzt, Chips im Wert von 305 Milliarden Dollar pro Jahr zu produzieren.

Heute liegt die globale Produktion bei 412 Milliarden Dollar, chinesische Unternehmen setzen 65 Milliarden Dollar pro Jahr mit Chips um. Zudem soll die chinesische Industrie bis 2030 80 Prozent der Inlandsnachfrage nach Chips decken, gegenüber 33 Prozent im Jahr 2016. Chinas Ambitionen haben auch geopolitische Gründe. Fortschrittliche Chips sind der Schlüssel zu neuen Waffensystemen, besserer Kryptografie und leistungsfähigeren Supercomputern. Eine erfolgreiche Chipindustrie würde China wirtschaftlich wettbewerbsfähiger und unabhängiger machen. Kein Wunder also, dass die chinesische Regierung beträchtliche Anstrengungen unternimmt, um diese Ziele zu erreichen.

Gelingt die Aufholjagd? Genau hier kommt Deep Learning ins Spiel. Mit seiner Hilfe kann Software Krankheiten diagnostizieren, Autos lenken und gesprochene Sprache verarbeiten. Das Verfahren funktioniert allerdings auf eine grundlegend andere Weise als die meisten Programme. Deep Learning verwendet große Netzwerke, die Schichten simulierter Neuronen enthalten – ähnlich einem biologischen Gehirn.

Wenn solch ein Netzwerk lernt, eine Aufgabe zu lösen, muss es die Stärke der Verbindung zwischen den künstlichen Neuronen anpassen. Das geschieht in einer Art Kaskade, die sich durch die Schichten bewegt. Jede Berechnung verändert die Verbindungen zwischen einer Schicht und der nächsten. Im Wesentlichen programmiert sich das Netzwerk selbst neu, während es läuft.

Mathematisch gesehen werden dabei Operationen mit sogenannten Matrizen durchgeführt. Forscher erkannten schon früh, dass Chips in Spielkonsolen, die ursprünglich für die schnelle Wiedergabe von 3D-Bildern entwickelt wurden, sogenannte GPU, solche Berechnungen sehr schnell und effizient durchführen können. Einer der Marktführer für GPU ist Nvidia, das sein Geschäft mit Hardware für Gamer aufgebaut hat. Aber auch traditionelle Hersteller wie Intel und Internetkonzerne wie Google und Amazon haben mittlerweile leistungsstarke neue Chips für das Training von Deep-Learning-Software entwickelt.

Aber das Geschäft ist noch jung, und chinesische Unternehmen sehen ihre Chance, vorn mit dabei zu sein. Kai Yu arbeitet seit Jahren mit an dieser Revolution. Der fröhliche Mann mit der schmalen Brille hat in den späten 1990er- und frühen 2000er-Jahren in China und Deutschland an neuronalen Netzen geforscht. 2013 gründete er Baidus Institute of Deep Learning, da das Unternehmen als eines der ersten stark auf KI setzte. Aber an spezielle KI-Chips trauten sich die Baidu-Manager Yu zufolge nicht heran. Zu kostspielig und technisch viel zu ambitioniert schien ihnen das Unterfangen. Also verließ Yu das Unternehmen und gründete seine eigene Firma, Horizon Robotics.

Horizon konzentriert sich auf "anwendungsspezifische" Mikrochips, die vortrainierte Deep-Learning-Algorithmen ausführen. Anwendungsfelder sind derzeit selbstfahrende Autos und intelligentere Roboter. Aber Yu glaubt, dass diese Chips bald überall sein werden. "Wenn wir in zehn Jahren zurückblicken", sagt er, "werden mehr als die Hälfte der Berechnungen auf einem Gerät KI-bezogen sein."

Inzwischen hat auch sein ehemaliger Arbeitgeber Baidu umgedacht. Im Juli 2018 kündigte der Suchmaschinenriese an, an einem Chip namens Kunlun zu arbeiten. Er soll Deep-Learning-Algorithmen in seinen Rechenzentren ausführen.

Andere Giganten steigen seitdem fast im Monatstakt ein: Im August präsentierte Huawei, Chinas größtes Telekommunikations- und Smartphone-Unternehmen, den Kirin 980. Der mobile Chip beinhaltet eine "neuronale Verarbeitungseinheit". In gewisser Weise veranschaulicht der Chip die noch immer spürbaren Grenzen der chinesischen Fähigkeiten: Er wurde von der taiwanesischen TSMC hergestellt. Aber in anderer Hinsicht spiegelt er die bemerkenswerten Fortschritte Chinas wider. Denn der Chip ist einer der ersten des Landes mit einer Strukturbreite – die kleinstmögliche Einheit der Schaltungselemente auf dem Chip – von nur sieben Nanometern. Kleinere Komponenten machen Chips schneller und leistungsfähiger, und sieben Nanometer sind technisch derzeit das Optimum.

Die Entwürfe für den Deep-Learning-Teil des Chips stammen von einem Start-up namens Cambricon, das Forscher der Chinese Academy of Sciences 2016 gegründet haben. Heute ist Cambricon mit 2,5 Milliarden US-Dollar das weltweit wertvollste Start-up der Chipbranche.

Wiederum einen Monat später, im September, gab das E-Commerce-Unternehmen Alibaba den Plan bekannt, eine Tochter für die Herstellung von KI-Chips zu gründen. Der Name des neuen Unternehmens: Pingtouge, auch bekannt als Honigdachs, ein afrikanisches Tier, das für seine Furchtlosigkeit und Zähigkeit bekannt ist.

Noch einmal einen Monat darauf folgte wiederum Huawei – diesmal mit der Ankündigung eines selbst entwickelten KI-Chips namens Ascend.

Und in Tianjin erklärt Jiang, dass auch iFlytek darüber nachdenkt, eigene Chips zu entwickeln, um die Leistung seiner elektronischen Übersetzer zu verbessern. Als wolle sie das Vorhaben kommentieren, spricht die von der KI generierte Version von Trump gerade in diesem Augenblick: "人工智能正在改变世界". Übersetzt: "Künstliche Intelligenz verändert die Welt."

(bsc)