Horace und die schöne Herzogin

Ein mehr als 200 Jahre alter Begriff erweist sich als geradezu maßgeschneidert für ein verbreitetes Internet-Phänomen – finden, ohne gesucht zu haben.

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Von
  • Peter Glaser

"Serendipity" ist eines der beliebtesten Worte der englischen Sprache. Es steht für die Fähigkeit, per Zufall bemerkenswerte Entdeckungen zu machen. Im Deutschen kennt es kaum jemand, obwohl es ein Phänomen bezeichnet, das im Internetzeitalter erst so richtig modern geworden ist. Dafür, dass es bereits 265 Jahre alt ist, ist das Wort noch erstaunlich leistungsfähig. Erfunden hat es der englische Schriftsteller Horace Walpole, der eine außerordentliche Schaffenskraft bei der Einführung neuer Worte an den Tag legte. Das Oxford English Dictionary rechnet ihm mehr als 200 solcher Neologismen zu, darunter "malaria", "nuance" und "souvenir".

Am 28. Januar 1754 schrieb Walpole seinem langjährigen Briefpartner Sir Horace Mann, der britischer Gesandter in Florenz war, von einem aufregenden Detail, das er zufällig in einem Buch über Wappenkunde entdeckt hatte und das auf eine unvermutete Verbindung zwischen der angesehenen venezianischen Familie Cappello und den berüchtigten Medici in Florenz hinwies. Als junger Mann hatte Walpole Florenz besucht und Stunden vor einem Gemälde der für ihre Schönheit gerühmten Bianca Cappello verbracht.

Sie war als Mädchen nach Florenz ausgebüchst, später Mätresse und nachmals zweite Ehefrau von Francesco de Medici, bis beide schließlich einem mutmaßlichen Giftmord zum Opfer fielen. Walpole war hingerissen von der hübschen Herzogin und ihrer wildromantischen Geschichte. Nach vielen Jahren war das Gemälde endlich in seinen Besitz gelangt und Walpole war gerade dabei, einen Rahmen dafür anfertigen zu lassen, der mit passenden Emblemen geschmückt werden sollte. Das Fundstück in dem Buch eignete sich dafür ideal. "Diese Entdeckung ist in der Tat von der Art, die ich SERENDIPITY nenne", heißt es in seinem Brief.

Da war es nun, das neue Wort. Er habe, führte Walpole aus, "ein albernes. kleines Märchen" mit dem Titel "The Three Princes of Serdendip" gelesen – die englische Version eines persischen Märchens, das auf die 1302 entstandenen Dichtung "Die acht Paradiese" des persischen Gelehrten Amir Chusrau zurückgeht. "Serendip" ist der alte persische Name für Sri Lanka. In dem Märchen schickt der König von Serendip seine drei Söhne hinaus in die Welt, um sie lernen zu lassen, was sie noch nicht wissen. Dabei finden sie ständig bemerkenswerte Dinge, die sie gar nicht gesucht haben.

Moderne Autoren bauen auf Walpoles wortschöpferische Arbeit auf. In seinem 1998 erschienenen Roman "Armadillo" spricht William Boyd von "Zemblanity" als der fragwürdigen Fähigkeit, "unbefriedigende, unglückliche und erwartbare Entdeckungen zu machen". Zemblanity hat seinen Namen von dem trostlosen arktischen Archipel Nowaja Semlja, an dem der niederländische Entdecker Willem Barents 1597 gestrandet war.

1999 folgte der Biochemiker Toby J. Sommers mit "Bahramdipity", einer Bezeichnung für die Unterdrückung zufallsgesteuerter Entdeckungen. Das Wort leitet sich ab von Bahram Gur, einem König, der die drei Prinzen von Serendip erst zum Tode verurteilt und dann zu seinen Beratern macht. Sommers definiert Bahramdipity als "die Unterdrückung einer Entdeckung, manchmal einer zufälligen Entdeckung, durch den oft egoistischen Akt eines mächtigeren Individuums, das Personen mit geringerer Macht und geringem Ansehen unbarmherzig bestraft.

In den letzten Jahren wird das Phänomen Serendipity zunehmend als vielversprechendes Konstruktionsprinzip zur Vermeidung von Filterblasen in den sozialen Netzen diskutiert, durch die Nutzer gegenüber Informationen isoliert werden, die nicht ihrem algorithmisch berechneten Standpunkt entsprechen. Im übrigen gibt es eine verbreitete Spezialform der Suche, nämlich die nach dem wirtschaftlichsten Weg – die sogenannte Effizienz. Die traurige Form der Effizienz aber führt zu nichts als Ergebnissen.

Da man in Wirtschaft, Politik und Wissenschaft oft an nichts anderem interessiert zu sein scheint, bleibt es dem unbekümmerten Rest der Menschheit vorbehalten, das Nichteffiziente, also die ganze Fülle und aberwitzige Pracht des Lebens zu erkunden und neugierig bis vergnügt in die überraschenden Abzweigungen der Weltinformationsmasse zu taumeln. Das probate Mittel hierfür ist Serendipity. Aber ich schweife ab.

(bsc)