Gelähmter Patient kann Robotersystem grob mit Gedanken steuern

Forscher haben einem Querschnittsgelähmten ein Elektroden-Grid implantiert, über das er rudimentär auf ein Exoskelett einwirken kann.

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Gelähmter Patient kann Robotersystem grob mit Gedanken steuern

(Bild: Shutterstock/alexialex)

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Wissenschaftler haben erste Ergebnisse einer Langzeitstudie zum Einsatz eines Exoskeletts veröffentlicht, das prinzipiell über eine drahtlose Gehirn-Maschine-Schnittstelle gesteuert werden kann. Es ist die große Hoffnung vieler Querschnittsgelähmter, eines Tages wieder gehen zu können. Eine klinische Anwendung eines solchen Robotersystems zur Therapie von Querschnittsgelähmten liegt aber noch in weiter Ferne.

Die französischen Forscher der Universität Grenoble haben in ihrer Studie, die sie im medizinischen Fachjournal The Lancet Neurology vorstellen, ersten Patienten je zwei Geräte zur Elektrokortikographie (ECoG) auf beide Hirnhälften implantiert. Anders als bei der äußerlich angewendeten Elektroenzephalographie (EEG) zur Messung von Gehirnströmen, die etwa beim Berlin Brain Computer Interface (BBCI) genutzt wird, liegt das epidurale Elektroden-Grid hier auf der harten Hirnhaut auf. Die Sensoren befinden sich direkt über den Hirnarealen, die für Empfindungen und Bewegungen im sogenannten sensomotorischen Kortex zuständig sind.

Die Geräte zeichnen mit jeweils 64 Elektroden die Hirnströme dieser Regionen auf. Fokussiert sich der damit ausgerüstete querschnittsgelähmte Patient gedanklich darauf, ein Bein bewegen zu wollen, zeichnen die Implantate die Signale auf und leiten sie drahtlos an einen Computer-Algorithmus weiter, der die Informationen in motorische Befehle übersetzt. So konnte der Proband das angeschlossene Roboterskelett sowie einen digitalen Avatar ansprechen und rudimentär lenken.

Das beteiligte Team dokumentierte die Bewegungsfortschritte sowie die Trefferquote der Übersetzung von Gedanken in Bewegungen über eine zweijährige Testphase. Sowohl den langfristigen Einsatz der invasiven Implantate als auch die hohen erreichten Freiheitsgrade der Armbewegungen und die gleichzeitige Einbeziehung aller vier Gliedmaßen bezeichnen die Forscher als Fortschritt. Sie räumen aber ein, dass die eingesetzte Elektrodenmatte bei einem zweiten Teilnehmer überhaupt nicht funktionierte und verweisen auf einen technischen Defekt auf der Ebene der Energiezufuhr für die Signalübertragung. Direkt nach der Implantation sei durch das Versagen die gesamte Betriebssoftware lahmlegt worden, was die Explantation des Systems erforderlich gemacht habe.

Deutsche Experten sehen laut dem Science Media Center (SMC) Licht und Schatten in den bisher publizierten Resultaten und noch viele offene Fragen. "Ein großes Problem der Gehirn-Computer-Schnittstellen ist die schlechte Präzision der Kontrolle", erläutert Rüdiger Rupp, Leiter der Sektion Experimentelle Neurorehabilitation am Universitätsklinikum Heidelberg. So landeten in diesem Fall auch nach mehrmonatigem Training nur 75 Prozent der Armbewegungen an dem gewünschten Zielort. Ob das für eine Alltagsanwendung ausreiche, müsse zumindest "erst in Folgestudien gezeigt werden".

Als positiv wertet Rupps Kollege Norbert Weidner, Ärztlicher Direktor der Heidelberger Universitätsklinik für Paraplegiologie, dass die beschriebene "epidurale Platzierung" der Schnittstelle vergleichsweise weniger invasiv sei, "als Elektroden direkt ins Gehirngewebe zu implantieren". Zudem ließen sich mit dieser Methode "sehr viel länger stabile Hirnströme ableiten", was eine technische Neuheit darstelle.

Aus klinischer Perspektive eines Experten für Querschnittslähmung ergibt sich für Weidner aus der Studie aber "keinerlei Zugewinn an Wissen oder Erfahrung, die zu einer Verbesserung der Lebensqualität der Betroffenen beitragen". Über einen "Brain-Switch" ein automatisiertes Gehprogramm eines Exoskeletts anzuschalten, sei keine wirkliche Innovation. Ein Betroffener mit dem Grad der in dem Aufsatz "sehr dürftig" beschriebenen Lähmung sei generell durchaus noch in der Lage Roboterglieder ein- oder auszuschalten. Das "Gehen" habe in der Studie ferner "nur mit Hilfe einer Aufhängung an der Decke erfolgen" können. Der Praktiker folgert: "Damit ist die Alltagsrelevanz gleich null."

In die gleiche Kerbe schlägt Mirko Aach, Leiter der Abteilung für Rückenmarksverletzte am Universitätsklinikum Bochum. Prinzipiell steht der Traum, wieder laufen zu können, bei allen frisch Querschnittsgelähmten an oberster Stelle, weiß der Mediziner. Zahlreiche Untersuchungen zeigen jedoch, "dass die Begleiterscheinungen der Querschnittslähmung in Form von fehlender Sensibilität, Blasen- und Mastdarmstörungen und Schmerzen, die Gefahr von Druckstellen sowie die Spastik im Verlauf die größeren Einschränkungen im Alltag mit sich bringen". Insofern sei die neue invasive experimentelle Studie zwar "rein wissenschaftlich hoch interessant, aber ohne jeden funktionellen Nutzen für den querschnittsgelähmten Studienteilnehmer". An dessen Situation habe sich letztlich nichts verändert jenseits des Prinzips Hoffnung.

Skeptisch beäugen Sachverständige auch mögliche Auswirkungen des gezeigten ECoG-Implantats auf Initiativen von Facebook und Neuralink fürs "Gedankenlesen". Die von den Firmenchefs Mark Zuckerberg und Elon Musk postulierte "gedankenbasierte Computertexteingabe von 40 Worten pro Minute" bleibe auch mit dem Elektroden-Grid "aus heutiger Sicht unmöglich", meint Rupp. Abstrakte Vorstellungen, wie der Gedanke an ein zu tippendes Wort, entstünden verteilt in vielen Hirnregionen, die alle mit Elektroden "angezapft" werden müssten. Selbst wenn mit ausgefeilten Methoden der Künstlichen Intelligenz (KI) einzelne Wörter erkannt werden könnten, wäre das Operationsrisiko des Einbaus dieser Vielzahl an Messinstrumenten immens.

"Selbstverständlich müssen beim Einsatz von Neurotechnologien zahlreiche neuroethische Aspekte beachtet werden", betont Surjo R. Soekadar, Oberarzt an der Berliner Charité. Es liege daher nahe, dass einschlägige großflächige Ansätze, wie sie Facebook oder Neuralink vorschwebten, öffentlich diskutiert und dafür zumindest "bestimmte rechtliche Leitplanken" gezogen werden müssten, "um unsere Freiheitsrechte und Selbstbestimmung nicht aufs Spiel zu setzen". Zudem gehe es beiden Konzernen nicht um medizinische Anwendungen, sondern um die "Erweiterung der menschlichen Leistungsfähigkeit".

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(emw)