Der Staub von morgen

Es gibt zwei Hypothesen zur Zukunft: Entweder geht das Richtige schief oder das Falsche. Ein kleiner Ausblick.

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Wir schreiben das Jahr 2143. Die Welt hat sich verändert (wie sie das übrigens ständig tut). So gibt es viel mehr Sand als früher, und auch gefährlicheren. Nicht den natürlichen Quarzsand, mit dem die Wüsten sich weiter ausbreiten, sondern eine wildgewordene Version davon – Amok Dust. Angefangen hatte es schon vor Jahrzehnten mit Smart Dust (SD), winzigen Computermodulen, die nicht viel mehr konnten als sich mit anderen solchen Modulen zu verbinden. Die Modul-Cluster wuchsen, je nach Größe einer Aufgabe, bis sie eine lösungsgeeignete Dimension erreicht hatten.

Da Mobilität bei militärischen Anwendungen eine entscheidende Rolle spielt, gehören die winzigen Partikel schon lange zum Arsenal von Hightech-Konfliktbewältigung; genauer gesagt: gehörten, denn Ende des 21. Jahrhunderts war etwas schiefgelaufen. Im Zuge eines eher unbedeutenden Handelskonflikts im Mittleren Osten – nachdem die Erdölvorräte erschöpft waren – verschwanden mehrere Container mit kriegstauglichem SD, die eigentlich nur als Drohkulisse gedacht waren. In den Monaten danach häuften sich unsystematische SD-Attacken, deren Ursprung wie auch deren Ziele unklar waren.

Es stellte sich heraus, dass der Versuch einer der vielen neuen Transportsekten, die SD-Hardware zu hacken und für eigene Zwecke zu verwenden, missglückt war. Der intelligente Staub machte sich gewissermaßen aus dem Staub und führt seither in den verschiedenen Weltgegenden ein unkontrollierbares Maschinendasein. Möglicherweise kann Rost das Problem langfristig beheben. Gegenwärtig ist die Gefahr, auf einen nomadisierenden Haufen unberechenbarer Mikromodule zu stoßen, aber noch so hoch, dass viele Menschen nur noch ungern außerhalb von Städten unterwegs sind, in denen mit äußerster Sorgfalt auf eine niedrige Staubkonzentration geachtet wird.

Dieser Rückzug ins Regionale hatte sich bereits im letzten Jahrhundert zu einen Megatrend zu entwickeln begonnen, als Terroristen es immer riskanter machten, zu verreisen; gleichzeitig schotteten Nationen sich wirtschaftlich und weltanschaulich zunehmend voneinander ab. 2089 führte die Deglobalisierung zur Auflösung der UN. Im 19. und 20. Jahrhundert hatten die Erfindung von Telefon, Television und Telekommunikation zu einem scheinbaren Triumph der Ferne geführt – der griechische Wortstamm "tele" bedeutet "fern". Etwas Weltumspannendes war erfunden worden, mit dem sich Entfernungen entfernen ließen. Allerdings kehrte dieser Triumph sich durch die angedeuteten Entwicklungen wieder um. Die Nähe erhob neuerlich ihr Haupt. Es entstanden quasi-religiöser Bewegungen, die sogenannten Transportsekten. Der Begriff stammt aus der Zeit, als die neue, immens leistungsfähige Netzinfrastruktur für das autonome Fahren verfügbar war und die Bedeutung von "Transportieren" eine ähnlich dramatische Wandlung erlebte wie Jahrzehnte zuvor der Begriff "Suchen".

Das persönliche Verhältnis zur Mobilität wurde zur Glaubensfrage, mit allen inbrünstigen und revoltierenden Folgen. Die "Telepräsenten" etwa verweisen auf die lebensechten Realitätssubstitute, die uns aus dem Medium entgegentreten (das Netz hat den Begriff der Medien in der Mehrzahl einkassiert). Schon vor Jahrzehnten folgte man bei Live-Konzerten auf Großbildschirmen den Künstlern, die darunter auf der Bühne als winzige Figürchen agierten, auf die man ab und zu einen Kontrollblick warf. Weshalb sollte man noch mühevolle, umweltschädigende Fernreisen unternehmen, wenn man den überzeugenden Eindruck, dort zu sein, auch hier haben kann?

Die "Zeilingeristen" sind davon überzeugt, dass man doch alles haben kann, Lichtgeschwindigkeit UND keinen Stress. Sie berufen sich dabei auf die Arbeiten von Erwin Schrödinger (der mit der Katze) und Anton Zeilinger, den ersten Physiker, der tatsächlich ein Teilchen gebeamt hat, so wie man sich das zuvor als Startrek-Technologie nur ausgemalt hatte.

Die "Lebensarbeiter" wiederum gingen aus einer Gegenbewegung zu den immer selbständigeren neuen Berufen hervor. Zuzeiten der Industriegesellschaft erkauften sich Arbeiter und Angestellte durch die freiwillige Einschränkung ihres persönlichen Bewegungsradius in Gestalt der Anwesenheitspflicht ein regelmäßiges Einkommen. Den Mitgliedern dieser kleinen, aber äußerst agilen Transportsekte ist es zu danken, dass man sich heute nicht mehr nur anstellen lassen kann, um zu arbeiten, sondern auch insgesamt, um das Leben als Beruf auszuüben, dafür aber seine Anwesenheit Tag und Nacht behördlich tracken zu lassen.

Jede Bewegung scheint nur vorübergehend. Etwas, das kurz die eigentliche Ruhe der Welt stört, den Gleichmut der unbewegten Dinge. Zwischen den festen Gefügen, der Landschaft, den Häusern der Städte, verlaufen Bewegungsströme aus Organismen, Wasser, Verkehr, Elektrizität, Daten und der Wille zur Mobilität. Es scheint ruhige Punkte zu geben in all dem Geschehen, Inseln im Strom. Aber Stillstand ist eine Illusion. Es gibt nur Bewegung.

(bsc)