Zahlen, bitte! 1800 Meilen zum nächsten Piep – das viktorianische Internet
Die erste Telegraphenleitung zwischen Ost- und Westküste der USA feiert Geburtstag. Sie war Teil eines Vorläufers des Internet.
Auf den Tag genau vor 158 Jahren wurde in den USA die 1800 Meilen lange Telegraphenleitung von Missouri nach Kalifornien in Betrieb genommen, die die Ostküste mit der Westküste Amerikas verband. Sie war entlang der Strecke errichtet worden, auf der die jugendlichen Reiter des "Pony Express" mit ihren Postsäcken galoppierten.
Von einem Tag auf den anderen wurden William "Buffalo Bill" Cody und andere Westernhelden arbeitslos, denn das Zeitalter des "viktorianischen Internet" hatte seinen ersten Höhepunkt erreicht. Bevor kommende Woche das Internet seinen 50. Geburtstag feiert, lohnt es sich, an diesen Pionier des adressierten Datenverkehrs zu erinnern.
Eine Entdeckung für Kommunikation nutzen
Ähnlich wie beim Internet gingen der Erfindung des elektrischen Telegraphen Dutzende Erfinder in vielen Ländern voraus, die aus einer physikalischen Entdeckung ein Kommunikationssystem zu entwickeln suchten. Beim Internet war es die Paketvermittlung von Daten, beim Telegraphen war es Verstromung von Daten. Als Vorlage dienten den Telegraphie-Erfindern die optischen Zeigertelegraphen tagsüber und die maritime Lichtsignalisation in der Nacht. Von beiden Einschränkungen könnte sich ein strombasiertes System absetzen, doch wie konnte es am besten realisiert werden?
Die Lösungen variierten stark, von Georges-Louis Le Sages mit seinem "Berliner Telegraph", der mit 26 Leitungen arbeitete (für jeden Buchstaben einen Draht) bis zum Morsetelegraph des US-amerikanischen Malers Samuel Morse. Sein System gewann nach etlichen Fehlschlägen, weil Morse erst das Code-System für eine einzige Kommunikations-Leitung entwickelte und dann erkannte, dass der Draht oberirdisch geführt und isoliert werden konnte, während die Konkurrenz den Draht in Bleirohren im Erdboden versenkte. Über 1800 Meilen hinweg an der Route des Pony Express wäre das technisch nicht möglich gewesen.
Das Wachstum dieses in den USA von Anfang an kommerziell genutzten Systems war enorm. Morse selbst hatte 1848 ein 40 Meilen langes System zwischen Washington und Baltimore installieren können. Zwei Jahre später hatten zwanzig verschiedene Telegraphen-Gesellschaften an der Ostküste bereits 12.000 Meilen verkabelt, an der Westküste 3000. Hauptnutzer waren die Bankiers, die pro Tag bis zu 10 "Kabel" erhielten und begannen, mit diesen Informationen an der Börse zu handeln. Aber auch andere bedienten sich der schnellen Kommunikation.
Auf dem alten Kontinent staatlich kontrolliert
Als die transkontinentale Verbindung den Pony Express ablöste, ging es richtig los: "Er überträgt Botschaften zwischen Bankern, Händlern, Kongressabgeordneten , Regierungsbeamten, Brokern und Polizisten, er übertragt Wahlergebnisse, Todesfälle, die Ereignisse aus Senats- und Repräsentantenhaus und selbst den Stand von Warenbestellungen und die Abfahrtszeiten von Schiffen", bemerkte ein britischer Beobachter pikiert.
Denn in Großbritannien war die Telegraphie eine Staatsangelegenheit. Sie sorgte zwar früh für Geschichte, als am 6. August 1844 die Geburt des zweiten Sohns Albert Ernest von Königin Viktoria getickert wurde. Richtig berühmt wurde der Telegraph im Jahre 1845, als es der Polizei gelang, dank einer Personenbeschreibung einen flüchtigen Mörder zu fangen. Fortan warb man für den Telegraphen mit dem Slogan: "Die Drähte, an denen John Towell gehenkt wurde." Jedoch brauchte die für das Commonwealth so wichtige Entwicklung des Unterwasserkabels noch dreieinhalb Jahrzehnte, bis die Kinderkrankheiten überwunden waren. Mehrfach scheiterte der Versuch, durch das Rote Meer ein Kabel nach Indien zu verlegen.
Und Deutschland? Hier begriff als erster der Bankier Israel Beer Josaphat in Göttingen die Bedeutung des gesamten Systems. Er wanderte nach London aus und gründete unter dem Namen Paul Julius Reuter im Jahre 1851 von London die Nachrichtenagentur Reuters Telegraphic Company. In Deutschland startete der ebenfalls jüdische Finanzier Bernhard Wolff im Jahre 1849 seinen "Kurszettel" mit getickerten Börsennachrichten aus London und Frankfurt, musste aber auf Drängen der Behörden Anteile an den Staat abgeben, ehe Wolffs Telegraphisches Bureau (WTB) 1865 eine Lizenz bekam – und der staatlichen Zensur unterlag.