Zahlen, bitte! 1800 Meilen zum nächsten Piep – das viktorianische Internet

Seite 2: Eine eigene Sprache

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Innerhalb des Morse-Systems bildeten sich Kürzel heraus, mit denen die Telegraphen sich untereinander verständigten. GM für Good Morning, II für die Empfangsbereitschaft oder 33 für die Mitteilung "Antwort hier bezahlt" gehörten dazu. Zudem lernten die Telegraphen schnell, nicht den ausgedruckten Papierstreifen zu lesen, sondern direkt den Morse-Zeichengebern zuzuhören. So ging es in Telegraphenämtern zu wie in einem Online-Chatroom des Internet, beschrieb der Wissenschaftsjournalist Tom Standage die Situation in seinem Buch "The Victorian Internet" über die Telegraphie. Man rief sich gegenseitig die wichtigsten Nachrichten zu, die von einer Telegraphenstrecke zur anderen weitergereicht wurden.

An den Endpunkten wurden Botenjungen eingesetzt, die die Telegramme zum Empfänger brachten. Berühmtester Botenjunge dürfte Thomas Alva Edison gewesen sein, der nach diesem Kontakt mit der Technik beschloss, "Stromerfinder" zu werden. Bald wurde klar, dass die Kommunikation schnellere Endpunkte als Laufburschen benötigte. In New York, London und Berlin wurden zeitgleich 1865 die ersten Rohrpostsysteme zwischen dem Telegraphenamt und der Börse installiert, nachdem interne Teststrecken in den Telegraphenämtern erfolgreich genutzt werden konnten.

International war die Telegraphie zunächst eine komplizierte Angelegenheit. Auf der ersten Telegraphenstrecke zwischen Berlin und Wien gab es an der Grenze ein Telegraphenamt, auf dem sich deutsche und österreichische Telegraphen die Telegramme in die Hände drückten. Das änderte sich erst mit der heute ITU genannten Fernmeldeunion im Jahre 1865, die gleich einige Standards veröffentlichte. So durften Telegramme nur in acht zugelassenen Sprachen verschickt werden und Worte nicht länger als fünfzehn Buchstaben sein. Damit wollte man der "ärgerlichen Praxis" von Firmen und Händlern begegnen, die ihre Transaktionen und Kaufanweisungen mit langen Codewörtern verschlüsselten.

Diese Standardisierung funktionierte zunächst aber nicht, weshalb man 1885 nachjustierte. Die maximale Wortlänge wurde auf zehn Buchstaben gekürzt und alle Worte mussten in den zugelassenen Standardsprachen Deutsch, Englisch, Spanisch, Französisch, Italienisch, Holländisch, Portugiesisch oder Lateinisch existieren. Zusätzlich begann man mit der Entwicklung eines Wörterbuches aller zugelassenen Worte in diesen Sprachen, das 1894 veröffentlicht wurde und 256.740 Worte enthielt. Jeder Begriff, der nicht in diesem Wörterbuch verzeichnet war, kostete im "Geheimschrifttarif" das Dreifache.

Der Gebrauch "harter" Verschlüsselungssysteme sollte nur Diplomaten und den Telegraphengesellschaften selber erlaubt sein. Dies führte dazu, das die damals größte amerikanische Telegraphengesellschaft Western Union ein System einführte, mit dem Summen bis zu 100 Dollar überwiesen werden konnten, in fünfzehn Städten mit besonderen Codebüchern und mehrfach hin- und hergeschickten Prüfsummen durften es sogar bis zu 6000 Dollar sein.

Als erstes Land errichtete Frankreich eine militärische Abteilung, in der Codeknacker damit beschäftigt waren, die in Paris aufgegebenen Telegramme von Diplomaten mitzulesen. Sie wurde im Zuge der Dreyfus-Affäre weltbekannt, als es ihr gelang, ein Telegramm zu entschlüsseln (und anschließend zu fälschen), das der italienische Militärattaché Panizzardi nach Rom schickte. Doch das ist eine andere Geschichte. (mho)