Das Internet und der Kosmos

Womöglich endet gerade die Zeit, in der etwas einen Anfang und ein Ende hat.

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Von
  • Peter Glaser

Zugleich mit dem Internet und der immer weitergehenderen Vernetzung der Welttextmasse tauchten auch in der Kosmologie Theorien auf, die aus dem Einen ins Viele führen. Sie weiten den Begriff des Alls radikal aus. Die Überlegungen gehen dahin, dass es nicht nur dieses Universum gibt, in dem wir uns befinden, oder vielleicht noch ein paar Paralleluniversen, sondern dass an jedem Punkt der Welt, an dem es unterschiedliche Möglichkeiten gibt, alle vorstellbaren (und mit Sicherheit auch die uns unvorstellbaren Möglichkeiten) verwirklicht werden in Gestalt eines jeweils eigenen Universums. Es gäbe demnach ein Universum, in dem dieser Satz mit dem Wort Ja weitergeht, eines, in dem er mit Nein weitergeht, eines, in dem er mit Vielleicht weitergeht, undsofort, die Varianz natürlich nicht nur auf sprachliche, sondern auf jede Art von Möglichkeit bezogen.

Der theoretische Physiker und Kosmologe Alexander Vilenkin schätzt die Distanz zum nächsten Universum auf happige 10 hoch 10 hoch 100 Lichtjahre (Bereits die Zahl 10 hoch 100 entspricht einer 1 mit 100 Nullen. Im Englischen wird sie Googol genannt). In seinem Buch Kosmische Doppelgänger erläutert Vilenkin die permanente Entstehung neuer Universen anhand seiner Theorie "ewiger Inflation". Demnach wäre das uns bekannte Universum nur eine von vielen kosmischen Blasen, in denen die Inflation – die extrem rasche Expansion des Universums nach dem Urknall – zufällig schon früh endete, während sie in anderen, für uns nicht erfassbaren Bereichen noch immer anhält.

Sein Kosmologenkollege Andrei Linde ist der Idee gleichfalls zugeneigt. Linde leistete bereits in den Siebzigerjahren noch in der Sowjetunion Vorarbeiten zur Entwicklung der Inflationstheorie – die im Westen 1981 von dem amerikanischen Kosmologen Alan Guth vorgeschlagen wurde – und begründete die Theorie der Multiversen, der Gesamtheit aller Parallelwelten. Obwohl Kosmologen ernsthaft diskutieren, ob Parallelwelten real existieren könnten, ist dem Publikum die Vorstellung weitgehend aus der Science-Fiction bekannt.

Wen es schaudert vor den Fantastillionen an Verzweigungen im kosmischen Maßstab, der sei daran erinnert, dass die Naturwissenschaften immer wieder mit Erstaunen zur Kenntnis genommen haben, dass die Skalen wesentlich weitreichender sind als ursprünglich angenommen, die Welt also jeweils viel älter, viel größer, viel ins Submikroskopische hinein ausdifferenzierter ist als man zuvor dachte, mit einem Wort: dass die Welt viel komplexer ist, als wir es uns vorstellen.

Was sollte den Kosmos daran hindern, sich in einer solchen unermeßlichen Fülle in die Unendlichkeit zu verschwenden? Das mangelnde menschliche Begriffsvermögen wohl nicht. Diese Versiertheit unseres Bewusstseins aber ist möglicherweise gerade dabei, einen bedeutenden Schritt nach vorn zu machen – wobei das lineare Bild vom Fortschreiten nicht ganz richtig ist. Denn neu ist, dass die Entwicklung nicht mehr linear verläuft.

Es ist eine Zeit absehbar, in der der Mensch ungleich größere Komplexitäten handhaben wird können als heute. Es wird eine Zeit sein, in der man die Theorie einer Entstehung der Welt durch einen Urknall so belächeln wird wie wir heute die Annahme des Mittelalters, die Erde sei eine Scheibe. Die Urknall-Theorie sagt mehr über unsere Zeit als über den Zustand der Welt. Über das fundamentale, sprachgeprägte Bedürfnis, alles beginnen und enden zu lassen. Denn erst dadurch läßt sich erzählen, was wir eine Geschichte nennen. Etwas, das einen Anfang und ein Ende hat. Vielleicht beginnt nun gerade ein letztes Mal etwas, und zwar das Ende der Zeit, in der Geschichten einen Anfang und ein Ende hatten.

(bsc)