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Was war. Was wird. Von halben Jahrhunderten und anderen Jahrhundertereignissen.

Ach, der 9. 11.. Ein Schicksalstag der Deutschen, in jeder freudigen und entsetzlichen Hinsicht. Mancher zieht daraus seltsame Lehren, wundert sich Hal Faber.

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Was war. Was wird. Von halben Jahrhunderten und anderen Jahrhundertereignissen.

"Keine Atempause, Geschichte wird gemacht, es geht voran."

(Bild: Triff / Shutterstock.com, Text: Fehlfarben)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Hal Faber

Wie immer möchte die Wochenschau von Hal Faber den Blick für die Details schärfen: Die sonntägliche Wochenschau ist Kommentar, Ausblick und Analyse. Sie ist Rück- wie Vorschau zugleich.

*** Vor dreißig Jahren standen zigtausende von Menschen auf der Mauer, die Ost- und Westdeutschland trennte. Das hielt die Mauer nicht aus und so sprechen wir heute vom Mauerfall. Der machtvolle Antifaschismus aus dem Osten siegte und so sprechen wir heute von der Fahrerlaubnis mit all ihren Klassen, während der westdeutsche Führerschein mit seiner Erinnerung an den Führer den Nieten mit Hundekrawatten überlassen bleibt, die zwanghafte ihre Herrschafts- und Zersetzungsphantasien ausleben. So sieht halt Meinungsfreiheit aus. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Nieten suchte sich ausgerechnet die Kanzlerin als Zielscheibe aus, die in einem Interview davon spricht, dass es eher ein halbes Jahrhundert dauern wird, ehe sich Ost- und Westdeutschland angeglichen haben. Das packen wir zur Wiedervorlage in 20 Jahren.

Ausreisedenkmal

(Bild: Jürgen Regel, Marian… (Quo Vadis, Deutsche Botschaft in Prag, Lizenz CC BY 3.0 )

*** Ja, so ein 9. November hat es in sich. Wer ein halbes Jahrhundert zurück blickt, landet bei einem ganz anderen Datum deutscher Geschichte. Vor 50 Jahren deponierten die Tupamaros West-Berlin eine Bombe im Jüdischen Gemeindehaus von West-Berlin, die ein V-Mann des Verfassungsschutzes geliefert hatte. Die Tupamaros wählten bewusst den 9. November der Progrome von 1938, um auf diese Weise für den "Befreiungskampf des palästinensischen Volkes" zu werben. In der Phantasie der Täter würde sich die linke Bewegung vom Protest gegen den Vietnamkrieg abwenden, schon allein deshalb, weil der Antisemitismus in weiten Teilen der Bevölkerung anschlussfähiger sei als der Antiamerikanismus. 50 Jahre später wissen wir mehr über diesen Hass.

*** Zu den vielen tollen Geschichten, die von den Ereignissen von damals erzählt werden, gehört die Geschichte vom Ende der Geschichte, die der US-Philosoph Francis Fukuyama im Jahre 1989 zum ersten Mal zum Besten gab. In dieser Woche referierte er vor den Schülern der Hertie School of Governance, warum er zwar richtig prognostiziert hatte, sich das Geschehen jedoch in einer ganz anderen Richtung bewegte. Es ist dieses verdammte Internet, das alles verzerrt und den unausweichlichen Triumph des liberalen Westens verlangsamt, es ist diese elektronische Kommunikation, die die "nationalistische Internationale" eines Putin oder Xi erst möglich macht. Eine Woche nach der Geschichte vom rechtsfreien Raum Internet kommt die Geschichte vom Netz als obersten Bremser der Geschichte, natürlich unter Hinweis auf den twitternden Präsidenten, der fürs Twittern übrigens immer einen Lakaien zur Hand hat. Darin unterscheidet er sich von anderen Zwölfjährigen, die ihr Smartphone bedienen können. Für den Propheten Fukuyama ist die Sache mit Trump übrigens ausgestanden: "Wir werden sehen, ob das amerikanische Volk zweimal denselben Fehler macht".

*** Unter all den Artikeln, Erinnerungen und Anekdoten zum Fall der Mauer ragt ein "Manifest" hervor, das den Mauerfall aus Ostberliner Perspektive betrachtet. Es heißt Was wir wollen und soll wohl die Leitplanke der künftigen Entwicklung der "Berliner Zeitung" sein, die jetzt Silke und Holger Friedrich gehört. Erstmal ist Leid beim Lesen und Verstehen angesagt, die Salonkommunisten sprechen gar von einer ostdeutschen Melange des Grauens: Verlegerin und Verleger bedanken sich zum Mauerfall bei Egon Krenz und Angela Merkel. Ferner danken sie den Eltern von Sergej Brin, dass sie von Russland aus in die USA ausgewandert sind und nicht nach Deutschland, denn sonst hätten wir etwas so schönes, großes und "technisch brilliantes" wie Google nie bekommen. Und noch größerer Dank geht an Vladimir Putin, aber nicht an den KGB-Agenten, der in Dresden Robotron überwachte, sondern an den weisen Staatsmann und großen Visionär mit seiner liebevollen Behandlung der Menschen auf der Krim und im Donezbecken. "Und reden wir nicht nur mit ihm darüber, wie verantwortungslos es heute ist, neue Atomwaffen entwickeln zu lassen, obwohl der Gödelsche Unvollständigkeitssatz in Wikipedia für jeden nachlesbar ist."

*** Kopfkratzen ist auch angesagt, wenn im Manifest von den "an unsere Türen schlagenden Social-Scoring-Systemen" die Rede ist. Wer sie an die Tür schlägt, ist unklar. Aber sie erzeugen einen Datenschatz, der dringend gehoben werden muss. "Die einen nutzen Daten und die anderen verbieten es, Daten zu erheben, obwohl wir das fortschrittlichste Datenschutzrecht zur Durchsetzung unserer informationellen Selbstbestimmung in der EU unser Eigen nennen – Maschinenbauer gegen Maschinenstürmer, Fortschritt gegen Reaktion, Pragmatismus gegen Nostalgie." Der Mensch ist der Datenwolf des Menschen, oder so. Dazu passt das in dieser Woche vom Bundestag verabschiedete Digitale Versorgung Gesetz, das der medizinischen Grundlagenforschung einen großen Datenreichtum beschert, wie es selbst der Bundesdatenschützer bemerkt und kritisiert. Von der datengetriebenen Medizin haben auch die Versicherten etwas. Sie werden Apps statt Ausdrücke vom Arzt bekommen und damit souveräne ManagerInnen ihrer Gesundheit. Wir wissen ja, wie das läuft: Am Anfang war Ada.

*** Nicht nur Kopfkratzen ist angesagt, auch etwas Sentimentalität, wenn hipster-gewendete Spätberufene aus dem Osten den Wessis die Geschichte erklären. Auch musikalisch mag man den erinnerungsseligen Neu-Verlegern Geschichtsvergessenheit vorwerfen. Und auch ihnen keine Verhärtung wünschen.

Wir schwelgen derweil in Erinnerungen, die uns mal hier, mal dort verweilen lassen.

Aller Anfang ist Ada. Isso. Nach der Feier ist vor der Feier. Jedenfalls manchmal. Am kommenden Montag hat der westdeutsche Oberpoet Hans Magnus Enzensberger einen runden Geburtstag von fast zwei halben Jahrhunderten, doch er ist schon hier und hier und hier gefeiert worden, deshalb blättern wir in der Vorschau zurück bis in die Zeit der frühen Kursbücher, die Enzensberger herausgegeben hat. Da finden sich dann so lustige Sachen wie dieser Text über "Das internationale System in den kommenden 50 Jahren" des Medienforschers Ithiel de Sola Pool im Kursbuch vom August 1968. Für das nächste halbe Jahrhundert schrieb er vor einem halben Jahrhundert: "Um 1980 wird eine größere politische Krise in der UdSSR ausbrechen. […] Obwohl es nicht ganz bis zur Revolution kommt, ist das Ergebnis dieser Unruhen die tatsächliche Abschaffung der Kommunistischen Partei, oder aber ihre Zersplitterung in mehrere Einzelorganisationen, die Aufhebung der Kolchosen etc. Während dieser Ereignisse verliert die Sowjetunion endgültig jeglichen Einfluss in Ost-Europa. Der Versuch einer Vereinigung von Ost- und Westdeutschland bleibt vorerst ohne Ergebnis; er verhindert jedoch das Ausbrechen der Revolution in der UdSSR. Letzten Endes führt der diplomatische Druck seitens West-Europas und der USA zur deutschen Wiedervereinigung." Das ist doch einmal eine erfolgreiche wissenschaftliche Prognose, ganz im Gegensatz zu den schriftstellerischen Versuchen, die Wiedervereinigung vor der Wiedervereinigung zu beschreiben. Die Prognose des Zusammenbruches beruhte übrigens auf einer Computersimulation, wie im Artikel Der Kaiser, der Zar und der Computer beschrieben.

Ein Krieg der Welten, ja, ja.

Gratulieren muss man Enzensberger auf jeden Fall für seinen Baukasten zu einer Theorie der Medien, die im Kursbuch vom März 1970 erschienen ist. Sein Baukasten enthält eine Menge handlicher Werkzeuge und ist voller nummerierter Thesen, mit denen andere ihr Fett wegbekommen. So wird Marshall McLuhan als "Sandgrube unbewältigter Beobachtungen" beschrieben. "Der Satz, das Medium sei die Botschaft, übermittelt jedoch noch eine andere Botschaft, die viel wichtiger ist. Er teilt uns mit, dass die Bourgeoisie zwar über alle möglichen Mittel verfügt, um uns etwas mitzuteilen, dass sie jedoch nichts mehr zu sagen hat.". Sehr gelungen ist auch das Lob der Manipulation von elektronischen Medien, die der Autor als Agent der Massen beherrschen muss. [i]"Ein unmanipuliertes Schreiben, Filmen und Senden gibt es nicht. Die Frage ist daher nicht, ob die Medien manipuliert werden oder nicht, sondern wer sie manipuliert. Ein revolutionärer Entwurf muss nicht die Manipulateure zum Verschwinden bringen; er hat im Gegenteil einen jeden zum Manipulateur zu machen." In diesen Sinne ist auch die Verklärung des Kurt von Hammerstein eine gelungene Manipulation. (jk)