IGF: Über die "digitale Souveränität" mit Vollgas ins "Splinternet"

Europa strebt eine stärkere Rolle im digitalen Raum an und hat die DSGVO, Russland und China setzen auf ein eigenständiges Netz. US-Beobachter sind besorgt.

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Was war. Was wird. Von Scherzen und anderen intelligenten Äußerungen.

(Bild: NicoElNino / shutterstock.com)

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Zu einem kleinen "Kampf der Kulturen" führen die mannigfaltigen Bedeutungen des Begriffs Souveränität in Bezug auf die digitale Wirtschaft und Gesellschaft auf dem Internet Governance Forum (IGF) in Berlin. In Deutschland und in Europa fordern Politiker und Unternehmer zunehmend die "digitale Souveränität" ein und wollen damit etwa Abhängigkeiten gegenüber Tech-Riesen und Plattformen aus den USA wie Apple, Google, Facebook oder Microsoft verringern. Russland und China bauen parallel an geschlossenen, eigenständigen Kommunikationsnetzwerken in Form eines nationalen Internets.

Forscher, Politiker und Konzernvertreter aus den USA sehen in diesen Bemühungen einen Angriff auf den Kerngedanken des Internets, das als globales öffentliches Gut einen großen Mehrwert für alle Onliner bringen sollte. Milton Mueller vom Georgia Institute of Technology, der seit Langem vor einer Fragmentierung des weltweiten Netzes warnt, brachte diese Sichtweise am Mittwoch auf den Punkt: "Das Internet-Protokoll schafft ein virtuelles Territorium. Darauf lässt sich keine nationale Souveränität aufbauen."

Bundeskanzlerin Merkel will digitale Souveränität nicht als Synonym für Abschottung verstanden wissen, sondern als Fähigkeit, "unsere eigene digitale Entwicklung zu bestimmen". Es gebe aber keinen dialektischen Trick, um "die Souveränität mit dem globalen Internet zu vereinbaren", hielt Mueller dem entgegen. Sein Forscherkollege William J. Drake assistierte ihm: Staaten nutzten die Souveränitätserzählung nur, um eigene Ziele durchzusetzen, die etwa auch im Bereich der Datenpolitik nicht immer aufs Wohl der Bürger ausgerichtet seien.

Lieber im Sinne der neuen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von "digitaler Führerschaft" sprechen wollte Lise Fuhr, Direktorin der European Telecommunications Network Operators Association (ETNO). Die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) etwa habe einen "hohen Standard geschaffen", das Internet aber nicht in Stücke gehauen. "Wir wollen kein nationales, fragmentiertes Netz, aber wir wollen die Kontrolle über die Daten wiedergewinnen", betonte die Vertreterin der Telco-Branche. In diesem Sinne sei etwa die Initiative Gaia X für einen europäischen Cloud-Dienst zu verstehen: "Wir müssen verhindern, dass Daten bei einigen Firmen konzentriert werden."

Achilles Zaluar aus dem brasilianischen Außenministerium zeigte Verständnis für die neue europäische Linie. "Wir sind für ein einziges, sicheres und globales Netz", stellte er klar. Es gebe aber ein großes Ungleichgewicht in der digitalen Ökonomie. So gingen schier die gesamten Online-Werbeeinnahmen an Google und Facebook und damit an zwei große US-Plattformen, "die fast keine Steuern zahlen". Diese hätten sich dank Datenauswertung mithilfe Künstlicher Intelligenz (KI) zu "privaten Geheimdiensten" entwickelt. Auch die Meinungsfreiheit bedrohten sie "durch algorithmische Entscheidungsfindung".

Der Botschafter aus Südamerika sprach von einem paradoxen Effekt des vielfach als eine Art Gleichmacher angesehenen Internets, da die dort greifenden Netzwerkeffekte auch zu Monopolen geführt hätten. Wenn es 50 oder 60 wichtige Plattformen gäbe, die halbwegs gleich über den Globus verteilt wären, fielen die Rufe nach Souveränität ihm zufolge schwächer aus. Zaluar warb daher dafür, das Kartellrecht stärker ins Spiel zu bringen: Es sei besser, Monopole zu zerschlagen, als das Internet in eine Vielzahl von Einzelteilen aufzubrechen. Zugleich kritisierte er, dass ICANN weiter als in den USA sitzende Einrichtung das Domainsystem kontrolliere und etwa bei .amazon und .org gegen öffentliche Interessen entschieden habe.

Prinzipiell unterstützten alle den freien Datenfluss, meinte Xu Peixi von der Communications University of China. Sein Land tue dies vor allem im Bereich Handel, habe aber "eine Ausnahme für die soziale Stabilität". Die USA hätten hier aber ebenfalls eine Sonderbestimmung für die "nationale Sicherheit" und bei der EU könne man den Datenschutz als eine solche bezeichnen. Auf die US-Plattformen schaue im Reich der Mitte keiner argwöhnisch, da man hier eigene vergleichbare Lösungen habe. Bei Inhalten fahre Peking einen stark souveränen Ansatz, aber hier gelange durch das Videoportal TikTok oder Micro-Blogging mehr mediale Macht in die Hände von Bürgern. Allerdings greift auch hier die staatliche Zensur grundsätzlich.

Alexander Isavnin von der russischen Gesellschaft zum Schutz des Internets kritisierte, dass Moskau die Daumenschrauben rund ums freie Netz immer weiter anziehe, immer wieder einzelne Dienste blockiere, die "Souveränität" über die Bürgerdaten ausgerufen habe und nun auch noch ein weitgehend autonomes Intranet schaffen wolle. Das einschlägige umstrittene Gesetz sei "rein in technischer Sprache" gehalten, sodass Menschenrechte völlig außen vor blieben.

Theoretisch könnten mit dem vorgesehenen Austausch von Datenpaketen nur noch über registrierte Knoten alle Nutzeraktivitäten überwacht werden, warnte Isavnin. Ob es soweit komme, sei aber noch offen: "Wir setzen auf die traditionelle russische Korruption, damit das mit der 'Souveränität' nicht hinhaut", sorgte der Aktivist für Lacher im Publikum. Mit dem Vorhaben werde der Betrieb des gesamten Netzes zudem deutlich teurer, da gängige Router oder Server kaum mehr eingesetzt werden könnten. Für diese Mehrausgaben dürften viele russische Behörden nicht gerüstet sein.

Auf einen anderen Unterschied zu den USA verwies Ilona Stadnik von der Universität St. Petersburg. "Russland und China sind gegen die Militarisierung des Cyberspace." Dabei sei das Militär ein "wichtiger Teil der klassischen Souveränität".

Im Mittleren Osten hätten staatliche Behörden die Kontrolle über die wichtigsten Provider, sodass sie das Internet zumindest temporär "jederzeit dichtmachen" könnten, berichtete der aus dem Jemen stammende Wissenschaftler Walid Al-Saqaf. Es gebe zwar technische Gegenmaßnahmen wie virtuelle private Netzwerke (VPN), deren Ports staatliche Stellen in einem ständigen Katz-und-Maus-Spiel aber auch blockieren und einzelne Nutzer so noch stärker überwachen könnten.

In den meisten afrikanischen Staaten fehlten Ressourcen und Geld, "um ein Splinternet, ein alternatives Netz wie in Russland oder China zu schaffen", führte Kuda Hove als Vertreter der Zivilgesellschaft in Simbabwe aus. "Wir erleben daher temporäre Shutdowns etwa bei Wahlen oder Revolten." Vielfach versuchten Regierungen auf dem Kontinent zudem, nationale Gateways zum Internet drastisch zu reduzieren, um dieses "nach Belieben an- und abschalten zu können".

Vint Cerf bezeichnete als einer der Väter des Internets schon die Geburt des Netzwerks als einen "souveränen" Akt: TCP/IP sollte ihm zufolge von Anfang an "funktionieren für jeden, der sich mit anderen verbinden will". Keiner habe aber Dritten vorgeschrieben, dass sie angeschlossen werden müssten. Die Idee des freien Informationsflusses sei aus der akademischen Welt erwachsen. Der Google-Botschafter unterstrich, dass die USA das Netz nicht erschaffen hätten, um es später besser kontrollieren zu können.

Zugleich arbeitete Cerf heraus, dass die meisten im Rahmen von Souveränität aktuell debattierten Probleme auf der obersten Anwendungsebene des Internets existierten und mit der darunterliegenden Datenübertragung nichts zu tun hätten. Viele der Schwierigkeiten seien daher eventuell mit passenden "politischen Protokollen" lösbar: es gelte, die Regulierung zusammenzuschalten und mit dem Internet kompatibel zu machen. "Es fehlt die Interoperabilität im internationalen Recht", befand auch die Ukrainerin Olga Kyryliuk vom Internet Freedom Network. Wie viele andere Vertreter der Zivilgesellschaft forderte sie, das IGF nach 14 Jahren als Plattform auf der Suche nach einschlägigen Antworten effektiver zu machen: "Wir hatten genug Dialog, wir brauchen Lösungen." (siko)