Die kognitive Krise

Eine kleine Zeitreise in die Geschichte der Konzentrationsstörung.

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Von
  • Peter Glaser

Der Advent war so lange die Zeit der Stille, bis jemand draufkam, dass man sich was schenken könnte. Seither herrscht nicht nur festliches Treiben im Lichterglanze, wie schon bei Goethe ("Staunend schaun wir auf und nieder / Hin und Her und immer wieder"), sondern ein allgemeiner Wahnsinn, der als Informationsüberflutung bereits aus dem Rest des Jahres bekannt ist. Wer glaubt, dass früher alles besinnlicher und leiser war, wird sich jedoch enttäuscht sehen. Bereits mittelalterliche Mönche konnten sich nur schwer konzentrieren. Dabei war das ihr Beruf.

Die Technologien mögen damals andere gewesen sein, aber die Angst vor Ablenkung war es nicht. Die Mönche beklagten sich darüber, wie leicht man sich etwas anderem zuwandte, aus dem Fenster starrte oder über Essen oder Sex sinnierte, statt an Gott zu denken. Sie machten sich sogar Sorgen, in ihren Träumen abgelenkt zu werden. Der Verstand ist von Natur aus nervös. Der Abt und und einflußreiche Autor Johannes von Massilia kannte das Problem: Der Geist wandere herum "als wäre er betrunken". Das war Anfang des 5. Jahrhunderts. Hätte Johannes ein Smartphone gesehen, hätte er unsere kognitive Krise sofort prognostiziert.

Die Aufgabe der Mönche in einem Kloster – im 5. Jahrhundert innovative Startups – bestand mehr als alles andere darin, sich auf die göttliche Kommunikation zu konzentrieren: lesen, beten, singen und arbeiten, um für das Wohl der Seelen zu sorgen. Interessanter Weise sollte für diese Mönche der meditierende Geist aber nicht beruhigt sein, sondern mit Energie versorgt werden, von kulturpessimistischer Ablehnung wie heute keine Spur. Ihre Lieblingswörter für die Beschreibung von Konzentration entstammten dem lateinischen tenere, an etwas festhalten. Das Ideal war ein Geist, der stets und aktiv sein Ziel anstrebte.

Einige der Strategien gegen das Oszillieren der Aufmerksamkeit waren aus heutiger Sicht sonderbar. Ein Teil der klösterlichen Ausbildung bestand darin, zu lernen, wie man imaginäre Bilder formt, um die $(LEhttps://de.wikipedia.org/wiki/Mnemotechnik:mnemonischen und meditativen Fähigkeiten zu verbessern. Der Geist liebt Reize wie Farbe, Blut, Sex, Gewalt, Lärm und wilde Gesten. Die Herausforderung bestand darin, seine diesbezüglichen Vorlieben zu akzeptieren und sie zur Förderung der geistigen Fülle zu nutzen, von Wissen, und gleichzeitig geradlinig seiner innersten Absicht zu folgen.

Künstlerisch Veranlagte konnten so, zumeist im Kopf, lebendige Erzählungen verfassen oder groteske Figuren schaffen, in denen die Ideen verkörpert waren, die sie kommunizieren wollten. Wenn eine Nonne wirklich lernen wollte, was sie gelesen oder gehört hatte, konnte sie das Material als eine Reihe bizarrer Animationen in ihrem Kopf wiedergeben. Und je sonderbarer diese Schöpfungen, desto besser fand man die zugehörigen Erinnerungen wieder. Der Geist sollte zu tun bekommen, sein Appetit nach ästhetisch Interessantem gestillt werden und zugleich Ideen in eine logische Struktur gebracht werden. Konzentration fühlt sich in diesem Modus wie ein Spiel an.

Aber das Problem der Konzentration ist rekursiv. Jede Strategie zur Umgehung der Ablenkung erfordert Strategien zur Umgehung der Ablenkung. Eine der einfachsten Empfehlungen von Johannes war, einen Psalm immer wieder zu wiederholen, um das Gehirn leerlaufen zu lassen. Er wußte aber auch, dass anschließend als erste Frage kommen würde: "Und wie sollen wir uns auf diesen Psalm konzentrieren?" Ablenkung ist ein altes Problem, und ebenso die Vorstellung, dass sie ein für alle Mal vermieden werden kann. Vor 1600 Jahren gab es bereits genauso viele aufregende Dinge wahrzunehmen und zu denken wie heute, Fragen der Speicherkapazität und der strukturierten Selbstoptimierung inklusive.

(bsc)