Existieren vor Präferieren

Wie unser Online-Verhalten uns und die gesamte Menschheit definiert.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Glaser

"Es ist dies das Zeitalter der Angst, weil die elektrische Implosion uns ohne Rücksicht auf 'Standpunkte' zum Engagement und zur sozialen Teilnahme zwingt."

--Marshall McLuhan, Die magischen Kanäle (1964)

Seit Anfang des neuen Jahrtausends scheint die existentialistische Sicht der Welt nicht mehr nur ein absolviertes Stück Nachkriegsphilosophie zu sein. Sie wird wieder zeitgemäß. Wie anders als mit Hilfe des Absurden ließe sich noch der Zustand der modernen Welt erfassen? Eines der Kennzeichen des Existentialismus ist seine Betonung der Angst. Des Gefühls, das wir empfinden, wenn wir unsere radikale Verantwortung bei der Festlegung unserer Identität erkennen. Wenn wir (wie Existentialisten das tun) bestreiten, bereits vorab mit einer Seele befüllt worden zu sein, dann bleiben unsere Handlungen – für die wir verantwortlich sind – der einzige Maßstab für das, was es heißt, ein Mensch zu sein. Für Philosophen hat diese Verantwortung dramatische Ausmaße.

Jean-Paul Sartre kommt zu dem Schluss, dass wir nichts außerhalb dessen sind, was wir aus uns selbst machen. Wenn wir Entscheidungen treffen, sind wir deshalb absolut für sie verantwortlich, nicht nur als Individuen. Wenn wir uns auf eine bestimmte Art und Weise des Seins einlassen, würden wir damit auch den Rest der Menschheit verpflichten – die theoretische Feststellung Sartres aus dem Jahr 1946 ist inzwischen erlebbarer Alltag geworden: Wir befinden uns heute in einer ausweglos vernetzten Lage. Wird uns das Ausmaß unserer Verantwortung gegenüber der Menschheit bewusst, hebt die Angst ihr Haupt. Es gibt aber nur wenige Gelegenheiten, zu denen wir mit dem Gewicht unserer Pflicht als Vertreter der Menschheit konfrontiert sehen. Sich bewusst so zu verhalten, als ob jede einzelne Handlung uns zutiefst als Individuum wie auch als Mensch im Allgemeinen definiert, widerspricht der Erfahrung eines Alltags ohne Alarmstufe.

Während unser Leben nun vom analogen in einen zunehmend digitalen Bereich übergeht, passiert jedoch etwas Merkwürdiges. Was die persönliche Verantwortung angeht, brauchen wir nur einen Blick auf die gängigen algorithmischen Empfehlungen zu werfen. Die Genauigkeit, mit der unsere individuellen Vorlieben über Wahrscheinlichkeiten und Korrelationen erfasst werden und unsere nächsten Schritte prognostizieren, ist oft unheimlich. Es fühlt sich an, als würden wir beobachtet. Wenn Algorithmen ein so genaues Feedback zu unseren Präferenzen liefern können, liegt das daran, dass sie sich von der wachsenden Spur digitaler Krümel ernähren, die unser elektronisches Ich hinterlässt.

Ein zunehmendes Bewusstsein für das Ausmaß, in dem unser Online-Verhalten uns definiert, erklärt auch die instinktiven Befürchtungen hinsichtlich des Anwachsens eines allwissenden Big Data-Behemoths. Es gibt sicher ein echtes Bedürfnis, die Privatsphäre zu schützen, aber zum Teil verbergen wir unsere Aktivitäten vor Algorithmen, um die Angst abzuwehren, dass alles, was wir online tun, dazu verwendet wird, uns zu definieren. Wir möchten nicht, dass diese Abfrage oder jener Besuch einer Website ein Beispiel dafür ist, wer wir sind, und maskieren sie daher, um uns selbst und den Algorithmen mitzuteilen, dass wir nicht identisch mit der Person sind, die da sucht und surft, sondern dass wir viel mehr sind.

Wir möchten auch nicht, dass unsere bisherigen Entscheidungen die Auswahlmöglichkeiten für die Zukunft einschränken. Lieber lehnen wir unsere Verantwortung ab und machen mit der eigentümlichen Art von Selbsttäuschung weiter, die Sartre als "böser Glaube" bezeichnet, Wir gehen davon aus, dass wir nicht einfach die Summe unserer Handlungen sind – eine Illusion, die leichter aufrechtzuerhalten wäre, wenn es keinen Algorithmus gäbe, der uns ständig daran erinnert, wie uns die Entscheidungen definieren, die wir getroffen haben.

In einer digitalen Welt wird uns zunehmend bewusst, dass jede einzelne Aktion, die wir ausführen, sofort jener Öffentlichkeit hinzugefügt wird, die wir das Internet nennen. Es wird jedem von uns immer klarer, dass Algorithmen lernen, was für einen Menschen insgesamt wichtig ist, wenn wir auf bestimmte Weise handeln und bestimmte Dinge bevorzugen. Jede Aktion, die digitalisiert werden kann, wird in den ständig wachsenden Datenpool aufgenommen und hat in zunehmendem Maß Einfluss darauf, was wir unserer Meinung nach tun sollten.

Ständig konsultieren wir Suchmaschinen, Apps und digitale Assistenten als wichtigste Quellen für unsere Entscheidungen. Aber die Richtung, in die Big Data uns alle bewegt, hängt letztlich vom Sediment unserer kollektiven Entscheidungen in der Vergangenheit ab. Und dafür sind wir mit Sicherheit verantwortlich, auch wenn unser individueller Beitrag winzig erscheint. Uns selbst zu sagen, dass wir nichts sind, ist eine Weigerung, sich der neuen, transparenten Realität zu stellen.

Die fundamentale existentialistische Einsicht, wie wir bei unseren Entscheidungen sowohl uns selbst als auch die Welt um uns herum formen, wird im Cyberspace deutlich. Je schwerer es wird, Big Data zu entkommen und alles, was wir tun, akribisch in einem digitalen Avatar zusammengefasst wird, umso klarer sollte werden, dass wir das sind, was wir durch unsere Handlungen aus uns selbst machen. Und da sich unsere Entscheidungen nun im kollektiven Reservoir der Big-Data-Gebirge ansammeln, müssen wir uns unserer erweiterten Verantwortung als Mitwirkende an einer Art neuem Bauplan für die Menschheit bewusst werden.

Mit großer Macht geht bekanntlich große Verantwortung einher. Dem könnte ein Existentialist hinzufügen: "Und mit großer Verantwortung geht eine große, existenzielle Angst einher." Wir können die Menschheit mit der Macht unserer additiven Anteile eher voranbringen, wenn wir die Angst als das nehmen, was sie ist: ein Zeichen dafür, dass in dieser miteinander vernetzten Zeit unsere Verantwortung als Stellvertreter der Menschheit zunimmt.

(bsc)