Das Experiment: Neun Tage ohne Smartphone

Halten es heutige Schüler und Studenten überhaupt noch ohne Smartphone aus? Und wie fühlen sie sich dabei? Ron Srigley unterrichtet an einem College in den USA und hat es ausprobiert.

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Das Experiment: Neun Tage ohne Smartphone

(Bild: Selman Design)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Ron Srigley

Srigley ist Schriftsteller. Er lehrt am Humber College in Toronto und an der Laurentian University in Sudbury.

Vor ein paar Jahren habe ich ein Experiment in einem Philosophiekurs durchgeführt. Meine Studenten hatten in einer Zwischenprüfung ziemlich schlecht abgeschnitten, und ich hatte das Gefühl, dass ihr ständiger Gebrauch von Handys und Laptops im Unterricht daran mitschuldig war. Also bot ich ihnen Extrapunkte an, wenn sie neun Tage lang ihre ­Geräte bei mir abgeben und über ihre Erfahrung schreiben würden. Zwölf Schüler – etwa ein Drittel der Klasse – nahmen das Angebot an. Was sie schrieben, war bemerkenswert.

Die Industrie erzählt uns gern, Mobiltelefone und soziale Medien würden Gemeinschaften aufbauen, die Kommunika­tion fördern, unsere Effizienz steigern und unser ganzes Leben verbessern. Tatsächlich fühlten sich die meisten Schüler ohne Handy zunächst verloren, desorientiert, frustriert, verängstigt. Aber nach zwei Wochen änderte sich das. Nun meinten sie, dass ihre Smartphones in Wirklichkeit ihre Beziehungen zu ­anderen Menschen behindern, ihr Leben beeinträchtigen und sie irgendwie von der „realen“ Welt abschneiden.

„Ob Sie es glauben oder nicht: Ich musste auf einen Fremden zugehen und fragen, wie spät es ist. Das hat mich ehrlich gesagt eine Menge Mut und Selbstüberwindung gekostet“, schrieb Janet. (Alle Namen sind Pseudonyme.) Sie hatte das Gefühl, von anderen deshalb für „seltsam“ gehalten zu werden. Schließlich habe jeder ein Handy, wozu müsse man da nach der Zeit fragen?

Auch Emily fiel auf, dass sie ihr Mobiltelefon oft zur Abschottung benutzt hatte: Wenn sie Fremden in einem Flur oder auf der Straße begegnete, zückte sie es regelmäßig, um Augenkontakt zu vermeiden. Zudem hat sie beobachtet, dass viele Leute ihre Handys in unangenehmen Situationen benutzen – „etwa auf einer Party, wo niemand mit ihnen spricht“.

James hat ähnliche Erfahrungen gemacht: „Eines der schlimmsten und trotzdem häufigsten Dinge, die Menschen heutzutage tun, ist es, ihr Handy während eines persönlichen Gesprächs zu benutzen. Das ist sehr unhöflich und inakzeptabel. Trotzdem muss auch ich mich schuldig bekennen, weil es die Norm ist.“

Direkten menschlichen Kontakt empfanden diese jungen Menschen bestenfalls als unhöflich und schlimmstenfalls als verschroben. Doch während des Experiments merkten sie, welchen Preis sie für ihre persönlichen Schutzzonen zahlen mussten: Zehn der zwölf Versuchsteilnehmer sagten, dass ­Handys ihre Fähigkeit zu menschlichen Beziehungen beeinträchtigten.

Ohne Handy, schreibt James, müsse er nun anderen in die Augen sehen und sich auf ein Gespräch einlassen. Stewart gab dem Ganzen eine moralische Note: „Es gibt all dieses Poten­zial für Gespräche und Interaktionen, aber wir sind zu sehr von den Bildschirmen abgelenkt, um an den wirklichen Ereignissen um uns herum teilzunehmen. Gezwungen zu werden, echte Beziehungen zu Menschen aufzubauen, machte mich offensichtlich zu einem besseren Menschen, denn jedes Mal lernte ich, ­besser mit der Situation umzugehen, statt mich hinter dem Telefon zu verstecken.“

Praktisch alle hielten die vereinfachte Kommunikation mit Handys zwar für einen Vorteil, acht der zwölf zeigten sich jedoch erleichtert, nicht auf die übliche Flut von Nachrichten und Posts antworten zu müssen. Peter: „Ich muss zugeben, dass es die ganze Woche ohne das Telefon ziemlich schön war. Ich musste das verdammte Ding nicht klingeln oder vibrieren hören und brauchte kein schlechtes Gewissen zu haben, Anrufe nicht zu beantworten, weil es keine zu ignorieren gab.“ William ­ergänzte: „Es fühlte sich frei an und war schön zu wissen, dass mich niemand stören konnte, wenn ich nicht gestört werden wollte.“ Und Emily berichtet, ruhiger geschlafen zu haben.

Die Industrie behauptet, dass ihre Werkzeuge uns produktiver machen. Die Studierenden konnten das nicht bestätigen. „Eigentlich habe ich die Dinge ohne Handy viel schneller erledigt“, schreibt Stewart. „Statt darauf zu warten, dass jemand auf eine Nachricht von mir reagiert, habe ich ihn einfach über das Festnetz angerufen und bekam sofort eine Antwort.“ Ohne ­Mobiltelefon konnte er sich zudem besser auf das Schreiben ­eines Aufsatzes konzentrieren. „Das Endprodukt war nicht nur besser, sondern auch viel schneller fertig.“

Elliot hatte gar den Eindruck, dass sich seine Produktivität mindestens verdoppelt hat, seit er auf Papier schreibt und kein Handy mehr hat. „Auch für einen Test zu lernen war viel ein­facher.“ Sogar Janet, die ihr Mobiltelefon mehr als die meisten anderen vermisste, gab zu: „Eine positive Sache war, dass ich ­produktiver war und im Unterricht besser aufpassen konnte.“

Einige Schüler fühlten sich durch ihre Telefone nicht nur geistig, sondern auch moralisch abgelenkt. „Das Handy hat meinen persönlichen Moralkodex beeinflusst, und das macht mir Angst“, gesteht Kate. „Ich muss leider zugeben, dass ich dieses Jahr im Kurs gesimst habe, obwohl ich mir in der Highschool geschworen hatte, dies niemals zu tun ... Ich bin von mir selbst enttäuscht, jetzt, wo ich sehe, wie sehr ich von der Technologie abhängig bin ... Ich fange an, mich zu fragen, ob sich das auf mich als Person auswirken kann, und dann fällt mir auf, dass dies bereits passiert ist.“

Das sieht auch James so: „Es ist für uns lebenswichtig, ­unsere grundlegenden Werte nicht zu verlieren. Dieses Experiment hat mir viele Dinge klargemacht. Eines ist sicher: Ich werde die Zeit, die ich mit meinem Handy verbringe, erheblich verkürzen.“ Auch seine Mutter fand es, so James, „toll, dass ich ihr mehr Aufmerksamkeit schenkte“.

Ein Elternteil wollte sogar selbst am Experiment teilnehmen. Für einige Studierende waren die Handys allerdings auch so ­etwas wie eine Rettungsleine zu den Eltern. Mitte bis Ende des 20. Jahrhunderts hatte nur die Hälfte der amerikanischen ­Eltern mindestens einmal pro Woche Kontakt mit einem erwachsenen Kind, hat die Psychologin Karen Fingerman von der University of Texas ermittelt. Heute hingegen haben fast alle wöchentlich Kontakt und mehr als die Hälfte täglich.

Emily vermisste ohne Handy vor allem den Kontakt zur ­Familie – „damit ich meinen Arsch für eine bevorstehende ­Prüfung hochkriege, oder um zu spüren, dass mich jemand ­unterstützt“. Und Janet schreibt: „Das Schwierigste war, dass ich nicht mit meiner Mutter sprechen konnte. Es war extrem stressig für meine Mutter.“

Auch die Sicherheit war ein wiederkehrendes Thema. ­Janet fragte sich, was passiert wäre, „wenn mich jemand angreifen oder entführen würde, oder wenn ich Zeuge eines Verbrechens geworden wäre oder einen Krankenwagen hätte rufen müs-sen“. Aufschlussreich daran ist, dass die Studierenden die Welt offenbar als sehr gefährlichen Ort empfanden. Dabei lebten sie in ­einer Stadt mit einer der niedrigsten Kriminalitäts­raten der Welt.

Die Erfahrungen meiner Studentinnen und Studenten sind natürlich nicht statistisch repräsentativ. Aber sie zeigen doch klar, dass sie sich durch Mobiltelefone weniger lebendig, weniger mit Menschen und der Welt verbunden und weniger produktiv fühlten. Mit anderen Worten: Handys halfen ihnen nicht, sondern schadeten ihnen.

Ich habe dieses Experiment 2014 durchgeführt. Im vergangenen Jahr habe ich es wiederholt. Anlass war diesmal kein schlecht ausgefallener Test, sondern meine allgemeine Verzweiflung über den Unterricht. Ich meine das nicht persönlich. Als Menschen mag ich die jungen Erwachsenen in meinen Kursen wirklich. Aber als Studenten sind sie miserabel. 70 Prozent von ­ihnen sitzen jeden Tag vor mir und kaufen online ein, simsen oder schauen Videos an – selbst die „guten“. Sie versuchen nicht einmal mehr wie früher, diese Aktivitäten zu verbergen.

Die meisten Erfahrungen des aktuellen Entzugsexperiments entsprachen denen von 2014. Aber es gab zwei ­bemerkenswerte Unterschiede: Erstens benötigten die Studierenden selbst für die einfachsten Aktivitäten – in den Bus steigen, Essen bestellen, morgens aufstehen oder wissen, wo man ist – ihre Handys. Ohne waren sie nervös und verloren. Zweitens zeigte sich nun ein gewisser Fatalismus. Tinas Beitrag beschreibt es gut: „Ohne Handys wäre das Leben einfach und echt, aber wir kämen vielleicht nicht mit der Welt und der Gesellschaft zurecht. Nach ein paar Tagen hatte ich mich an ein Leben ohne Handy gewöhnt und fühlte mich gut. Aber das lag wahrscheinlich daran, dass es nur für eine kurze Zeit war. Man kann nicht hoffen, im ­Leben konkurrieren zu können, ohne einen bequemen Kommunikationskanal wie das Mobiltelefon.“

Vergleichen Sie dieses Eingeständnis mit der Reaktion von Peter, der einige Monate nach dem Experiment im Jahr 2014 sein Smartphone in einen Fluss warf.

Ich denke, dass sich meine Studenten völlig rational verhalten, wenn sie sich in meinen Kursen mit ihren Handys ablenken. Sie verstehen die Welt, auf die sie vorbereitet werden, viel besser als ich. In dieser Welt bin ich die Ablenkung, nicht die digitalen Medien. Doch für das, was ich eigentlich tun sollte – junge Herzen und Köpfe erziehen und kultivieren –, sind die Folgen ziemlich ­düster.

Paula war ungefähr 28, etwas älter als die meisten anderen im Kurs. Sie hatte nach der Highschool schon fast ein Jahrzehnt ­gearbeitet, bevor sie ans College kam, um etwas zu lernen. Ich werde nie den Morgen vergessen, an dem sie eine Präsentation vor einer Klasse hielt, die noch stärker mit ihren Handys beschäftigt war als sonst. Nach der Präsentation sah sie mich verzweifelt an und fragte: „Wie in aller Welt schaffen Sie das?“

(bsc)