Fokus Neurotechnologie: Von Visionen und Illusionen
Ob Steuerung von Prothesen oder Auslesen von Gedanken: Elon Musk, Facebook oder die Militärforschungsbehörde Darpa setzen große Hoffnungen in Computer-Hirn-Schnittstellen. Wie weit ist die Technologie?
Igor Spetic, der seine Hand bei einem ÂArbeitsunfall verlor, war einer der ersten Prothesenträger, der dank einer in Ohio entwickelten Kunsthand mit Tastsensoren BerĂĽhrungen wieder spĂĽren konnte.
(Bild: UPMC/ Ryan Donnell/ backyardbrains.com)
- Christian Wolf
Miguel Nicolelis sorgte 2003 weltweit für Schlagzeilen: Der brasilianische Hirnforscher von der Duke University ließ einen Rhesusaffen einen Roboterarm steuern – nur mit der Kraft von Gedanken. Elektroden hatten die Signale im Affenhirn registriert und an einen Steuercomputer weitergeleitet. Damals schien es nur eine Frage der Zeit, bis Menschen mit schweren Lähmungen mittels solcher Computer-Hirn-Schnittstellen (BCI) Prothesen und Rollstühle würden steuern können. Zudem haben in den letzten Jahren Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley wie Facebook die Technologie für sich entdeckt. Mit der Verschmelzung von Gehirn und Computer sollen User etwa allein über Gedanken ihr Smartphone steuern können.
Doch wie weit ist die Technik heute wirklich? "In der Grundlagenforschung gab es bei BCI-Geräten in den letzten 15 Jahren durchaus Fortschritte", sagt Philipp Kellmeyer, Neurologe am Universitätsklinikum Freiburg und BCI-Spezialist. "So etwa wurde die Decodierung von Gehirnsignalen stetig Âgenauer." Erst kĂĽrzlich berichteten Forscher um den Neurochirurgen Alim Louis Benabid von der University of Grenoble von einem Exoskelett, durch das ein querschnittsgelähmter Patient erstmals ĂĽber Gedanken alle vier GliedmaĂźen steuern konnte. Die Wissenschaftler haben dem Mann dazu Elektroden unter die Schädeldecke implantiert – aber nicht ins Gehirn. Der Eingriff ist weniger invasiv, und doch sind die Signale wesentlich klarer als bei einem EEG. Wenn der Patient sich darauf fokussiert, eines der gelähmten Beine zu bewegen, zeichnen die Elektroden die Hirnströme in den Bereichen des Gehirns auf, die Empfindung und Motorik steuern. In Tierversuchen lieĂźen sich sogar nur ĂĽber Stimulation des RĂĽckenmarks Gehbewegungen auslösen.
"Solche BCI-Geräte kommen aber nicht im Alltag der PatienÂten an", sagt Kellmeyer. Man benötige ein sehr komplexes Zusammenspiel elektronischer Geräte: die Elektroden zum Messen der Hirnaktivität, eine Recheneinheit, die sie interpretiert, und dann noch die zu steuernden Prothesen. "Kaum eine Firma ist in allen drei Bereichen kompetent oder bereit, die Komponenten zusammenzufĂĽhren und als ein Gerät zu vermarkten." Denn die Gruppe der Patienten, die wirklich von BCI profitieren, ist sehr klein. Es sind schwer gelähmte Menschen wie Locked-in-Patienten – geistig hellwach, aber infolge eines Schlaganfalls oder der Amyotrophen Lateralsklerose (ALS) in ihrem gelähmten Körper regelrecht eingeschlossen. Wer hingegen "nur" vom Hals ab gelähmt ist, kann etwa durch Mundbewegungen Geräte besser steuern und benötigt kein BCI. AuĂźerdem wäre der chirurgische Eingriff im Vergleich zum Nutzen zu riskant. Es fehlen also schlichtweg die ökonomischen Anreize.
Weitere Artikel im Fokus Neurotechnologie:
- ANALYSE - Wunsch und Wirklichkeit
- GRAFIK - Diese Neuro-Schnittstellen gibt es bereits
- GEDANKEN LESEN - Wie US-Soldaten zu Cyborgs werden sollen
- SEHKRAFT - Spanische Forscher lassen Blinde wieder Umrisse erkennen
- FĂśHLEN LERNEN - Mehr FingerspitzengefĂĽhl nach Amputationen
- LAUFEN LERNEN - Stimulation des Rückenmarks lässt Gelähmte wieder gehen
(jsc)