Corona-Reproduktionszahl: sensitiv, stabil, komplex, instantan ... und primitiv

Die vielen Gesichter der Reproduktionszahl R. Ein Rückblick auf das Thema in der vergangenen Woche.

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Corona-Reproduktionszahl: sensitiv, stabil, komplex, instantan ... und primitiv
Lesezeit: 14 Min.
Von
  • Andreas Stiller
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Ja zugegeben, schon etwas spät, aber die letzte Woche hatte es in sich, da lohnt ein Blick zurück. Sie begann am Sonntag, dem 10.5, mit etlichen besorgten Meldungen über den Wiederanstieg der effektiven Reproduktionszahl, hier kurz R-Wert genannt. Im Situationsbericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) vom Sonntag-Abend war nämlich dieser Wert mit R = 1,13 (95%-Prädiktionsintervall: 0,94-1,35) beziffert worden. Dass das Unruhe auslösen würde, war klar, hatte doch Kanzlerin Merkel im April in ihrer Regierungserklärung nicht nur den Reproduktionsfaktor R hübsch erklärt (als promovierte Physikerin weiß sie, wovon sie spricht), sondern auch vorgerechnet, dass schon beim einem R-Wert von 1,2 im Juli die Belastungsgrenze der Krankenhäuser überschritten wird.

Um hier die Wogen zu glätten, gab es dann am Dienstag eine Sonderpressekonferenz des RKI mit Prof. Schaade, der erklärte, warum der R-Wert recht sensitiv mit kurzfristigen Ausschlägen auf Cluster-Infektionen reagiert, vor allem wenn Infizierten-Mengen so geballt kommen, wie bei den Schlachthof-Mitarbeitern. Allein im baden-württembergischen Birkenfeld kamen in den letzten Tagen 130, im Landkreis Osnabrück 92 und im bayrischen Straubing-Bogen 59 Infizierte hinzu, inzwischen sind es insgesamt gut 1100 infizierte Werksvertragsarbeiter, die die Statistik nun stark beeinflussen.

Um diese Sprunghaftigkeit zu relativieren, führte das RKI daher zusätzlich zu dem bisherigen "sensitiven R-Wert" noch einen "stabilen R-Wert" ein, der sich als gleitender 7-Tages-Mittelwert aus den nicht geglätteten Nowcast-Werten berechnet, und der auch einen Tag weiter als der sensitive Kollege zurückgeschoben wurde, also nun die Werte für Erkrankungstermine bis maximal vier Tage vor "now" abschätzt. Der sensitive R-Wert geht bis zu drei Tage vor "now".

Was Prof. Schaade indes nicht erwähnte, ist, dass die R-Wert-Berechnung durch die ihr innewohnenden Schätzungen ohnehin recht "wankelmütig" ist – das kann man bereits an der relativ großen Schwankungsbreite im 95%-Prädiktionsintervall (0,94 bis 1,35) ablesen. Weiterhin ließ er auch aus, dass schon am Tag der Pressekonferenz mit den nachträglich aktualisierten Meldezahlen der per Nowcast berechnete sensitive Wert von 1,13 auf etwas weniger bedrohliche 1,03 heruntergestuft wurde. Nichtsdestotrotz wurde ab Donnerstag dann der neue "stabile", über 7 Tage gemittelte R-Wert eingeführt. Mit dem liegt man dann mit dem Datenstand von Donnerstag rückwirkend berechnet, bei einem beruhigenden Wert von nur noch 0,93. Alle Wertangaben beziehen sich dabei auf einen Erkrankungstermin vom 6. beziehungsweise 5. Mai.

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Nowcast ist eine vom RKI entwickelte Berechnungsmethode, bei der nicht das Meldedatum, sondern das Erkrankungsdatum als Bezugstermin verwendet wird und bei der noch zu erwartende Nachmeldungen zu diesem Termin ebenfalls mit statistischen Methoden abgeschätzt werden. Da aber nur ein Teil der Fallmeldungen Erkrankungstermine enthält, wird der Termin der restlichen mithilfe einer sogenannten Imputation geschätzt. Dabei verwendet das RKI als Verteilung zwischen Erkrankungs- und Meldetermin die Weibull-Distribution, die besser als die Gauß-Verteilung für dynamische Prozesse geeignet ist. Das Ganze muss man nicht selber ausrechnen, inzwischen werden die Nowcast-Werte auch vom RKI zum Download angeboten, allerdings nur für ganz Deutschland. Die Statistiker an der Ludwig Maximilian Universität haben derweil eine eigene Nowcast- und Reproduktionszahlberechnung für Bayern und München eingeführt und das LGA in Baden-Württemberg nutzt die RKI-Methode für badisch-schwäbische R-Werte.

Blöd nur, dass die Grundlage für die verwendete Imputation, die tatsächlich gemeldeten Erkrankungstermine, immer mehr entschwindet. Waren Anfang April, als die Methode vorgestellt wurde, noch etwa 60 Prozent der Falldaten für ganz Deutschland mit Erkrankungsterminen versehen, so fiel dieser Wert Anfang Mai auf nur noch etwa 50 Prozent, Tendenz weiter abnehmend. Das ist eigentlich ein gutes Zeichen, zeigt es doch an, dass offenbar immer mehr Tests an nichtsymptomatischen Personen erfolgen, bei denen man folglich keinen Erkrankungstermin eintragen kann. Insgesamt geht die Trefferquote bei den Tests deutlich nach unten, inzwischen hat man auch genug Testkapazitäten frei, um Messungen an denselben Personen häufiger zu wiederholen. So lag die Zahl der positiv ausgegangenen Testungen am Ende von KW19 um rund 27.000 höher als die Zahl der gemeldeten Fälle. Lustig nur, dass in KW13 deutlich mehr positive Fälle beim RKI verzeichnet waren, als bei den Tests als infiziert herausgekommen waren – das könnte ein Zahlendreher sein, oder auch der Diskrepanz zwischen Test- und den Meldeterminen geschuldet sein.

Tests In Deutschland
Woche Tests Positive Tests in Prozent Labore Positiv Getestete Erkrankung bis Meldung (Tage)
Bis einschl. 10 124716 3892 3,1% 90 1064 4,7
11 127457 7582 5,9% 114 6377 4,4
12 348619 23820 6,8% 152 22396 5,4
13 361515 31414 8,7% 151 34018 7,1
14 408348 36885 9,0% 154 36057 7,3
15 379233 30728 8,1% 163 27150 6,8
16 330027 21993 6,7% 167 17312 7
17 360443 18015 5,0% 176 12380 6,8
18 325259 12585 3,9% 174 7431 6,5
19 382154 10187 2,7% 173 6192 6,5
3147771 197101 100,0% 170377 6,7
Quelle: Spalten A-E: RKI-Situationsbericht vom 13.5.2020, F, G: Ermittelt aus RKI-Zahlen mit Datenstand 18.5.2020