Die Chemie des Digitalen

Immer mehr kulturelle Strukturen - die Molekülen ähneln - werden beim Übergang in die digitale Welt wieder in ihre Atome zerlegt. Aber es gibt, wie im nuklearen Bereich, auch kulturelle Kernkräfte, die nun ihre Wirkung zu entfalten beginnen.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Glaser

Mit der Digitalisierung gehen immer mehr Dinge, die zuvor an bestimmte unaustauschbare Materialien gebunden waren, in einen neuen digitalen Aggregatzustand über. Kulturdinge im weitesten Sinn – aus Zeichenbrettern, Tonstudios, Fernsehern, Bücher, you name it, werden Daten. Diese digitale Substanz hat eine grundlegend neue Leichtigkeit. Die digitalen Dinge lassen sich ungleich leichter bewegen als zuvor, weltweit senden, empfangen, verändern, kopieren, mit anderen teilen, remixen.

Nicht zuletzt das Remix-Phänomen weist auf den instabilen Zustand hin, in dem sich die ganze Entwicklung derzeit befindet. Remixt werden Fragmente. Filmstücke, Soundschnipsel, Splitter anderer Kulturobjekte, die zu neuen Formen zusammengesetzt werden. Musik, Texte, Bilder, Filme, aber auch modulare Software oder enzyklopädisches Wissen befinden sich in der digitalen Welt in einem Zustand latenter Zerlegung. Die althergebrachten kulturellen Molekülverbindungen – die komplexen Formen, die sie angenommen haben – werden nun aufgeknackt oder sie zerfallen von ganz alleine wieder in ihre Grundbestandteile. Der Übergang in das digitale Aggregat führt erst einmal zu einer Art Ursuppe aus Bruchstücken und atomisiertem Kulturgut, das allerdings hoch reaktiv ist. Es ähnelt den freien Radikalen in der Chemie, die sich auf aggressive Weise zu verbinden suchen.

Zu den prominenten zerfallenden Kulturmolekülen gehören: Das Album, das bisher eine Handvoll Stücke von Musikern zusammenfaßte, eine Schaffensperiode; die Welt-Ordnung in einer Zeitung, in “Bücher” und Rubriken strukturierte Texte und Bilder; oder die Dramaturgie eines Films, die sich gewöhnlich über eine oder anderthalb Stunden erstreckt – Filme werden jetzt tranchiert in zwei, drei Minuten lange Clips, die sich danach auf YouTube versuchsweise zu neuen Molekülen konfigurieren. Zu vagen Wolken aus Lieblingsstellen, Pointen, Fan-Parodien und Remixes.

Das Album ist atomisiert zu einzelnen Tracks. Niemand muß nun mehr mit einem ganzen Album Stücke mitkaufen, die ihm nicht gefallen (und niemand wird mehr eines der langsam aufblühenden Stücke für sich entdecken, die sich einem erst nach dem zehnten oder dreißigsten Mal Hören öffnen). Auch hier sind neue Molekülbildungen aus den atomisierten Teilen noch kaum erkennbar, am ehesten in den Empfehlungsstrukturen von Online-Radios oder Audio-Shops, die aber alle noch plump sind und einen davon abhalten, etwas Neues zu entdecken. Die Musikindustrie, der das Rosinenpicken ganz und gar nicht gefällt, versucht etwas einfallslos, die Bindungskräfte des guten, alten Album-Moleküls wiedererstarken zu lassen: Apple will den Verkauf ganzer Alben bei iTunes mit einem speziellen Album-Downloadformat namens "Cocktail" ankurbeln, und die Major-Labels bringen einen eigenen digitalen Album-Container namens CMX an den Start, der ab November zum Einsatz kommen soll.

Auch die klassische Struktur der Zeitung korrodiert im Netz – und die neuen Strukturen sind noch nicht so recht gefunden. Ähnlich wie in dem tatsächlich vom Untergang bedrohten Quelle-Katalog ruht in einer gedruckten Zeitung die Welt auf dem soliden Fundament einer feststehenden Ordnung – Titelseite, Meldungen über und unter dem Knick, Aktuelles, Politik, Wirtschaft, Feuilleton, Sport, Vermischtes (Im Quelle-Katalog beginnt die Welt bei der Damenoberbekleidung und führt über Kinder- und Herrenklamotten ins Reich der Dinge, um am Ende mit den Elektrogeräten die Welt rund zu machen). Und wie die Musikindustrie das Album, versuchen auch die Zeitungen – und natürlich auch digitale TV-Nachrichtenangebote etc. –, im Netz die alte Weltordnung zu erhalten.

Aber mehr und mehr werden auch die einzelnen Texte, Meldungen, Stories zu Tracks. Denn sie werden nicht mehr nur an der Quelle gelesen, sondern zunehmend weitergereicht, verteilt, via Facebook empfohlen, gediggt, reblogged und weiter atomisiert zu Zitaten und Ausschnitten. Dieses Gewimmel beginnt seine neuen Molekülformen gerade erst zu ertasten. Hilfe dabei leisten die sogenannten Aggregatoren – sei es Google News oder ein höchstpersönlich mit Site-Favoriten, Lieblingsblogs und Tweetstreams bestückter Feedreader, der sich schon ein wenig anfühlt wie die Zeitung von morgen: ein ganz nach den eigenen Interessen und Qualitätsvorstellungen zusammengestellter, flexibler Filter für Nachrichten, Information, Wissen, Unterhaltung.

Die Chemie-Metaphorik versagt allerdings bei der Geschwindigkeit, mit der dieser Phasenübergang stattfindet. Wenn ein chemisches Molekül auseinanderbricht, dauert das Lösen oder Knüpfen der Bindungen zwischen den Atomen weniger als eine billionstel Sekunde. Hier heraußen bei uns in der Makrowirklichkeit sehen wir seit vielen Monaten, wie sich althergebrachte Strukturen – zu deren Existenzgrundlage oft nicht zuletzt auch ihre Gewichtigkeit und Schwerfälligkeit gehört – in der digitalen Leichtigkeit aufzulösen beginnen wie Zucker in warmem Wasser. Und neue Ordnungen sind erst sehr grob zu erkennen, wenn überhaupt – etwa die Google-Trefferlisten als rudimentäre Versuche, der ins Datenchaos zerfallenden alten Ordnung zumindest ein paar Momente lang neue Form zu geben.

Wir befinden uns mitten in der größten und komplexesten chemischen Reaktion der Kulturgeschichte. Und auch wenn die Ergebnisse der Synthese erst in Schemen auszumachen sind, eines steht fest: Es gibt, genau wie im nuklearen Bereich, auch kulturelle Kernkräfte, die in jedem der scheinbar losen Fragmente wirksam sind, welche uns gerade um die Ohren fliegen. Nichts wollen diese Teile mehr, als wieder Moleküle werden oder zu Molekülen gemacht werden. Kultur möchte sich verbinden, heute mehr denn je. An dem, was Texte erzählen und Fotos oder Filme zeigen, wird sich erst einmal nicht viel ändern. Aber die Art, wie sie zusammengestellt werden, verändert sich gerade fundamental, begleitet von Zerfallserscheinungen, Ungewißheiten und großen Chancen. Leute, schmiedet neue Moleküle! Laßt die digitalen Bunsenbrenner glühen. (wst)