Zahlen, bitte! 3672360 Mark für die zweite industrielle Revolution

Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt war eine Basis für Deutschlands Erfolg in der zweiten Industriellen Revolution. Der Anstoß kam von Werner Siemens.

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Zahlen, bitte! 3672360 Mark für die zweite industrielle Revolution
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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Nach der ersten Industriellen Revolution mit Dampf und Eisenbahn setzte die zweite Industrielle Revolution ganz andere Kräfte frei. Die Elektrizität mit Telegrafie, Telefon und Straßenbeleuchtung, die Chemie mit ihren industriellen Verfahren, die Gaswerke, die Fotografie und bald darauf der Film veränderten die Welt noch einmal radikal. Vielleicht verschwommen, doch in starken Bildern beschrieb der französische Dichter Paul Valéry diese Revolution: "Wie Wasser, Gas und elektrischer Strom von weither auf einen fast unmerklichen Handgriff hin in unsere Wohnungen kommen, um uns zu bedienen, so werden wir mit Bildern oder mit Tonfolgen versehen werden, die sich, auf einen kleinen Griff, fast ein Zeichen einstellen und uns ebenso wieder verlassen."

Ein Knips, ein lässiger Griff und schon erstrahlte das Zimmer, dann spielte das Radio oder der von hellsten Lampen durchleuchtete Film lief ab. Als Ort dieser zweiten Revolution, in der nach Émile Durkheim die Elektrizität die soziale Dichte der Massengesellschaft überhaupt erst erschafft, erinnert die Physikalisch-Technische Bundesanstalt an diese Revolution. Sie wurde 1897 in Berlin-Charlottenburg als Physikalisch-Technische Reichsanstalt (PTR) eingeweiht.

Die Physikalisch-Technische Reichsanstalt

(Bild: PTB)

Die erste industrielle Revolution wurde in dieser kleinen Serie mit der Iron Bridge in Großbritannien gefeiert, die heute UNESCO-Weltkulturerbe ist. Soweit hat es die PTR (heute PTB) in Berlin-Charlottenburg nicht gebracht. Sie ist ausweislich einer verstaubten Plastiktafel inmitten von umfangreichen Bauarbeiten nur eine "Stätte der Europäisch-Physikalischen Gesellschaft". Dabei gehört sie zu den Großforschungsinstituten, die zahlreiche wissenschaftliche Leistungen wie die Erklärung der Quantenphysik durch Max Planck ermöglichte. Die Plastiktafel nennt noch das Wiensche Strahlungsgesetz, den Einstein-de-Haas-Effekt und den Meißner-Ochsenfeld-Effekt des Großforschungsprojekts.

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Die Geschichte der Physikalisch-Technischen Reichsanstalt beginnt mit einer Denkschrift, die Werner Siemens im Jahre 1883 unter dem Titel "Begründung eines Institutes für die Förderung der exakten Naturforschung und Präzisionstechnik" verfasste. In ihr legte er dar, dass "eine fundamentale elektrische Maßbestimmung" für die deutsche Elektroindustrie dringend erforderlich sei, um in der "vorwettbewerblichen" Phase Deutschland als Führungsmacht zu bestimmen. Ein Jahr später bot er dem Kaiser dank einer Erbschaft eine Schenkung von einer halben Million Mark und zusätzlich die Übereignung von Grundstücken an. "Bei dem jetzt so lebhaft geführten Konkurrenzkampfe der Völker hat das ein entscheidendes Übergewicht, welches neue Bahnen zuerst betritt und die auf dieselben zu gründenden Industriezweige zuerst ausbildet." Der wissenschaftliche Fortschritt dürfe nicht von finanziellen Interessen abhängig gemacht werden, schrieb Siemens.

Er fand Gehör: 1887 wird die PTR gegründet, 1888 startete die Anstalt mit dem Arbeitsauftrag, einen leistungsfähigen Photometer zu entwickeln und die Bestimmung des Lichtstärke-Normals mit höchster Genauigkeit zu messen. Berlin soll elektrifiziert werden, aber wie hell sollen die Lampen eigentlich leuchten? Es entstanden Photometer wie der Lummer-Brodhun-Würfel und nach etlichen Versuchsreihen die Hefnerkerze, die bis 1940 das staatliche Normal bei der Lichtstärke setzte.

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In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Was ist mit dem Strom, der in die Haushalte kommen soll? Es galt, zuverlässige und fälschungssicher Stromzähler zu entwickeln. All das passierte in der PTR. In Berlin erwuchs ein neuer Industriezweig, die Glühlampenindustrie mit den Firmen Deutsche Gasglühlicht-Anstalt (später Osram), Siemens & Halske und der Allgemeinen Electricitäts-Gesellschaft (AEG). Letztere hatte das Patent der Glühlampen mit dem von Edison 1879 entdeckten Kohlefaden. Das Wachstum war enorm: Die drei Firmen produzierten 1891 noch 450.000 Glühlampen pro Jahr, 1908 waren es schon 32 Millionen jährlich, 1914 enorme 75 Millionen. Mit einem unmerklichen Griff Licht zu erzeugen, wie es Valéry beschrieb, das war die Errungenschaft der zweiten Industriellen Revolution für die Bevölkerung.

Werner Siemens selber hatte ein Grundstück in Berlin-Charlottenburg gestiftet, zu dem das Reich noch ein paar Blöcke zukaufte: mit 134.000 m² bildeten die fünf bis zum Jahre 1897 errichteten Gebäude der PTR das weltweit größte Institut für physikalische Forschung. Für seine Gebäude und Einrichtungen wurden 3.672.360 Mark ausgegeben. Die Summe übertraf die umgerechnet 1,5 Millionen Mark, die das das US-amerikanische Gegenstück National Bureau of Standards im Jahre 1903 kostete um mehr als das Zweifache. In Großbritannien gab man für das 1902 errichtete National Physical Laboratory als Gegenstück nur 600.000 Mark aus.

(Bild: PTB)

Die Sache mit dem Gegenstück kam nicht von ungefähr. Als die PTR ihren Betrieb aufnahm, warnte der britische Journalist Ernest Edwin Williams in einer Artikelserie in der New Review vor der deutschen Forschung. "Made in Germany" werde bald die führende Rolle Großbritanniens in der Industrialisierung ablösen. Ebenfalls in der New Review erschien 1897 der Aufsatz "La conquête allemande" von Paul Valéry, der damals noch nicht der große französische Nationaldichter war. Auch er schildert die germanische Eroberung mithilfe der Forschungsleitungen in Physik und Chemie.

Erster Direktor der PTR wurde der 66-jährige Hermann von Helmholtz, ein weithin hoch anerkannter Physiker. Er richtete vier Laboratorien ein, für Feinmechanik, Wärme und Druck, Optik und Elektrizität. Später kam ein chemisches Laboratorium hinzu für die Bedürfnisse der chemischen Industrie. Schon 1889 waren die Prüfungen und Eichungen von Thermometern, Manometern, Bolometern und Viskosimetern für die deutsche Gas- und Elektrizitätsindustrie so umfangreich, dass die PTR ihre erste Außenstelle in Ilmenau eröffnete, dem Zentrum der Glasindustrie. Was immer die PTR erforschte und entwickelte, wurde auf Anordnung von Helmholtz in anerkannten Fachzeitschriften publiziert. Hinzu kamen die wissenschaftlichen Abhandlungen der Reichsanstalt über Messegeräte und Messmethoden. Man kann es nicht Open Source nennen, aber Open Science ist es schon gewesen.

Die PTB war mit einer ganzen Reihe von Messungen für die aufstrebende Glühlampenindustrie beauftragt. Man untersuchte neben dem Kohlefaden die Eigenschaften von Glühfäden aus Osmium, Thorium oder Wolfram. Die elektromagnetischen Eigenschaften wurden in einem Schwarzen Körper untersucht, der in dreijähriger Bauzeit entwickelt wurde. Als Bolometer kam eine extrem ausgewalzte Platinfolie zum Einsatz, die mit Platinschwarz bestrichen war.

Die mit den Messungen befassten PTR-Physiker Heinrich Rubens und Ferdinand Kurlbaum erzielten die bisher genauesten Messergebnisse – und mussten feststellen, dass sie bei langen Wellen und hohen Temperaturen nicht mit dem bereits erwähnten Wienschen Gesetz erklärt werden konnten. Sie diskutierten diese "Messfehler" mit Max Planck, einem aufsteigenden Star in der theoretischen Physik. Planck beschäftigte sich mit den Werten und gelangte über seine Berechnungen zur Entdeckung des planckschen Wirkungsquantums als neue Naturkonstante.

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Am 19. Oktober 1900 berichtete Kurlbaum von den Messungen, während Planck sein Strahlungsgesetz vorstellte. Noch in der derselben Nacht überprüfte Rubens alle Messwerte mit Plancks Formel für die Energieverteilung. Die nach den PTR-Experimenten entwickelte Quantentheorie gilt als größter Erfolg der PTR. Als erster nahm Albert Einstein 1905 die Quantisierung der Energie von Licht und Wärmestrahlen auf und wandte es auf die Ausbreitung von elektromagnetischen Strahlen an. Seine Lichtquantenhypothese gehört damit in das Umfeld der PTR-Geschichte. Nachdem Einstein 1914 nach Berlin umgesiedelt war, wurde er durch einen Erlass des Kaisers Wilhelm II. im Dezember 1916 in das einflussreiche Kuratorium der PTR aufgenommen, das die Geschicke der Anstalt bestimmte.

Die hier vorgenommene Einteilung in eine erste, zweite und dritte Industrielle Revolution folgt den Erkenntnissen des US-Soziologen Daniel Bell. In seiner 1973 veröffentlichten Arbeit über "Die nachindustrielle Gesellschaft" schreibt Bell, dass der Transport (mit Eisenbahnen, Dampfschiffen, Brücken und Kanälen usw.) für die erste Industrielle Revolution sorgte, während Energie (mit der Elektrizität, dem Gas, Öl und Straßen usw.) für die zweite Revolution steht. Für die dritte industrielle Revolution sagte Bell voraus, dass sie auf Basis der Kommunikation stattfinden wird.

Eines seiner Beispiele für die gewagte These war ein "Gebilde" namens Arpanet, in dem Wissenschaftler frei ihre Gedanken austauschen. In seinem Text von 1973 schrieb er: "Die dritte Revolution wird in den kommenden zwei Jahrzehnten mit dem Zusammengehen von Technologien wie Telefon, Computer, Faxgerät, Kabel-TV und Videodisks zu einer neue Form der Kommunikation zwischen allen Personen werden, bei der die Übertragung von Daten die Art und Weise verändert, wie Nachrichten übertragen werden, wie Unterhaltung und Wissen in der Gesellschaft organisiert wird und wie das Lernen durch computerunterstützte Bildung verbessert wird." Ausführlich beschäftigte sich Bell mit der Bildung in der Informationsgesellschaft, die sich in der Revolution wandelt: "Das geistige Eigentum muss komplett neu organisiert werden". Mit Bell geht es deshalb in der kommenden Woche in die USA zum dritten Ort, der diese Revolution von Kommunikation und offenem Wissen symbolisiert.

(mho)