Keiner da, kann losgehen!

Zu den bemerkenswerten Auswirkungen der Corona-Pandemie gehört ihre Wirkung als Katalysator der Digitalisierung. Auch die Justiz wird vom viralen Fortschritt mitgerissen.

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Von
  • Peter Glaser

Am Mittwoch, dem 10. Juni wurde vor dem Düsseldorfer Landgericht erstmals in einem Zivilprozess öffentlich per Videokonferenz verhandelt. Bei Zivilsachen geht es um Dinge wie Schadenersatzklagen, Mietstreitigkeiten oder Vertragsverletzungen. Im aktuellen Fall beharkten sich zwei Matratzenanbieter – der eine wollte dem Konkurrenten untersagen lassen, weiterhin damit zu werben, dass seine Matratze "Emma One" alleiniger Sieger eines Matratzentests der Stiftung Warentest sei, während der andere ersterem im Gegenzug verbieten lassen wollte, seine Matratze "Bodyguard" als "Deutschlands meistverkaufte" zu bewerben.

Die gesetzliche Grundlage für solche virtuellen Zusammenkünfte – die Anwälte der Streitparteien hatten sich live aus Frankfurt und Berlin zugeschaltet – gibt es bereits seit November 2013. Damals wurde §128a in die Zivilprozessordnung eingefügt, demzufolge solche Verfahren nunmehr auch vermittels Bild- und Tonübertragung verhandelt werden können. Von den Gerichten wurde die Möglichkeit allerdings kaum wahrgenommen. Aus den Justizministerien hieß es, die Technik sei in "einzelnen Gerichten" vorhanden, würde aber selten genutzt; Videoverhandlungen gebe es in Einzelfällen oder "eher im Promillebereich". Das reiche Bayern verwies darauf, dass hierorts bereits 50 Gerichte mit einer mobilen Videokonferenzstelle ausgerüstet seien.

Auch wenn die Richterschaft Neuerungen bisher geradezu reflexhaft ablehnte, dreht sich nun mit der Corona-Krise der Wind. "Die Hemmschwelle, mit den Videoverhandlungen loszulegen, ist niedrig, die Bereitschaft dazu ist hoch", sagt Uta Fölster, Präsidentin des Oberlandesgerichts Schleswig. Während Gerichte auf Notbetrieb herunterfahren, fordert der Berliner Anwaltsverein, genau das nicht zu tun. "Die Fortsetzung der Arbeit der Justiz muss auch in Krisenzeiten gewährleistet werden", so der Vorsitzende des Anwaltsvereins, Uwe Freyschmidt. Videoübertragungen könnten die persönliche Präsenz in Gerichtsverhandlungen auf einfachem Weg ersetzen. Praktisch fehlt jedoch vielerorts immer noch die notwendige Technik oder Knowhow.

So bekam beispielsweise das Amtsgericht in Berlin-Lichtenberg im Jahr 2018 20.000 Euro für Säle mit großen Bildschirmen, Richtermonitoren und Dokumentenkameras. Seit Ende 2019 funktioniert das System aber offenbar nicht mehr, da Windows 10 eingeführt wurde und die Steuereinheit dafür nicht ausgelegt war. "Sicherlich wäre es ein Leichtes für einen Computerfachmann, sie wieder zum Laufen zu bringen", ist einer der Richter überzeugt. "Wir verfügen jedoch nur über drei Anwender-Betreuer, die Ausbildungen in Justizberufen haben und deren spezielle Vorbildung darin besteht, dass zwei davon gelernte Gärtner sind und einer gelernter Polsterer." Eigentlich müsste sich das Kammergericht um dieses Problem kümmern, sein Dezernat IToG ist für die "IT in der ordentlichen Gerichtsbarkeit" zuständig. Das Gericht ist derzeit jedoch sehr mit sich selbst beschäftigt, da es seine Arbeitsfähigkeit nach einem Trojaner-Angriff und IT-Lockdown erst wieder herstellen muss.

In vielen Fällen sind es die Anwälte, die eine Videokonferenz beantragen, etwa, um sich eine weite Anreise zu ersparen. Auch bei Anhörungen von Gefangenen hat es sich längst eingebürgert, den Häftling online zuzuschalten. Das Landgericht Tübingen praktiziert dies schon seit ein paar Jahren mit der Justizvollzugsanstalt Rottenburg. Das Landgericht Hannover, das zu den Vorreitern der Videoprozesse gehört, hat inzwischen schon in mehr als 50 Verfahren online verhandelt. Ein Gericht wird nächstes Jahr bereits sein 20-jähriges Videojubiläum feiern können: Das hessische Finanzgericht in Kassel nutzt Videoverfahren seit 2001, damit die Leute nicht kreuz und quer durchs Land fahren müssen; allein 2019 in 183 Fällen. Zugang gibt es allerdings nicht via Laptop, sondern nur von dezentralen Standorten in hessischen Finanzämtern und Steuerberaterkammern aus.

Rechtlich geht Videoverhandlung bisher nur bei Zivilprozessen. Das soll sich ändern, meint nicht nur der rheinland-pfälzische Richterbund. Das Bundesarbeitsministerium hat einen Referentenentwurf für ein Gesetz zur Sicherung der Funktionsfähigkeit der Arbeits- und Sozialgerichtsbarkeit während der COVID-19-Epidemie vorgelegt, denen nun massenhaft Kündigungs- und Krankenkassen-Prozesse ins Haus stehen. Danach sollen Gerichte Videoverhandlungen anordnen und neben Anwälten und Beteiligten auch ehrenamtliche Richter zuschalten dürfen.

Thomas Albrecht, Oberstaatsanwalt in Trier, regte zudem die Möglichkeit von Video-Sitzungen in Gerichten für bestimmte Strafverfahren an. Denkbar seien auch Ordnungswidrigkeitsverfahren wie zum Beispiel eine Verhandlung über einen Einspruch gegen ein Bußgeld. Auch in Fällen, in denen persönliche Anhörungen notwendig seien, könnte ein Weg per Video sinnvoll sein. Rechtlich ist dies aber in Strafverfahren zurzeit noch nicht möglich. Es sei aber sinnvoll, eine Gesetzesänderung zu prüfen, sagte Albrecht.

Wie amerikanische Untersuchungen zeigen, können Videoanhörungen die Angeklagten jedoch auch sowohl visuell als auch auditiv benachteiligen. Menschen erscheinen weniger wie Menschen, wenn sie auf einem Bildschirm gesehen werden, und das hat Auswirkungen auf die Ergebnisse des Verfahrens. Studien haben gezeigt, dass Menschen bei Einwanderungsanhörungen eher abgeschoben werden, wenn sie auf Video erscheinen, als wenn sie persönlich anwesend sind. Einem via Video gestellten Asylantrag wird auch weniger wahrscheinlich stattgegeben.

Ebenso wichtig wie das, was Menschen vor Gericht sehen können, ist das, was sie hören. "Die Audiofunktion bei einigen Videokonferenztechnologien verwendet einen Filter mittlerer Bandbreite, der niedrige und hohe Sprachfrequenzen abschneidet, die normalerweise zur Übertragung von Emotionen verwendet werden", heißt es in einem vom Justizministerium 2015 finanzierten Bericht über Videoanhörungen. "Diese Funktion blendet wichtige emotionale Hinweise aus, von denen man auf den Charakter eines Angeklagten schließen oder seine Reue bewerten kann. "Ob Sie vor einem Richter oder vor einer Jury stehen – was beurteilt wird, ist ihre Glaubwürdigkeit", sagt Peter Kratsa, Präsident der Pennsylvania Association of Criminal Defense Lawyers, "und Glaubwürdigkeit beurteilt man, indem man mit jemandem im Raum ist, nicht via Kamera."

Dass das Online-Zusammensein für viele neu und eine Herausforderung ist, zeigen Videos von Missgeschicken, die im Netz kursieren, etwa das eines Richters am Gerichtshof des brasilianischen Bundesstaats Amapa, der zu einer Sitzung via Zoom zunächst ohne Hemd und gurgelnd zwischen seinen bereits korrekt gekleideten Kollegen am Bildschirm auftaucht, ehe er etwas später gleichfalls in Hemd und Krawatte zurückkommt, um der Sitzung der Kammer beizuwohnen. In den USA hat eher das Verhalten einiger Anwältinnen und Anwälte für Aufsehen gesorgt, das die örtlichen Richter unamüsant fanden. "Wir haben Anwälte in lässigen Hemden und Blusen gesehen, ungepflegt, im Schlafzimmer mit dem Bett im Hintergrund usw.", schreibt Richter Dennis Bailey in einem offenen Brief, der auf der Website der Weston Bar Association – einer Anwaltsvereinigung – veröffentlicht wurde. "Ein Anwalt erschien ohne Hemd. Eine Anwältin war noch im Bett zu sehen, unter der Bettdecke".

Neben Bequemlichkeit und Effizienz gab es jedoch auch einige unbeabsichtigte Konsequenzen der elektronischen Kommunikationsform. Die häufigste Anwendung für Videoanhörungen sind die Kautionsverhandlungen vor dem Prozess, um die Kosten und Risiken des Transports der Angeklagten vom Gefängnis zum Gerichtsgebäude zu sparen. Jeder, der beispielsweise über einen Zeitraum von 24 Stunden in Chicago verhaftet worden war, wurde in einen Arrestbau in einem Chicagoer Gerichtskeller gebracht und erschien im Schnelldurchlauf per Video vor einem Richter im Gerichtssaal. Nach 30 Sekunden war die Kaution festgesetzt. "Viehtrieb" nannten das die Verteidiger.

Wissenschaftler der Northwestern University untersuchten die Höhe der Kaution, die für Fälle vor und nach der Einführung des Video-Meetings festgesetzt. Der Wechsel von persönlichen Anhörungen zu Videoanhörungen fiel mit einer durchschnittlichen Erhöhung der Kautionssummen um 51 Prozent zusammen.

(bsc)