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Vom Menschen in Quarantäne fällt zwangsläufig außenweltinduzierter Stress ab. Dazu gibt es auch die passende Software.

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Lesezeit: 7 Min.
Von
  • Peter Glaser

Als im März in immer mehr Ländern der Lockdown begann, meldete die Spieleplattform Steam Rekordzahlen an gleichzeitig angemeldeten Spielern. Aber wenn das Leben selbst zum Kampf gegen einen unsichtbaren Gegner wird, sind dann nicht Computerspiele, bei denen man vor allem Erholung sucht, indem man um sich ballert, ein bisschen wie Urlaub für den Piloten einer Verkehrsmaschine?

"Aus dem Gefühl von Angst Kapital zu schlagen, indem man weiterhin Spiele entwickelt, die diese Angst schüren, ist eine kurzfristige Strategie", sagt die ehemalige Mainstream-Spieleentwicklerin Brie Code. Sie findet den Stressimperativ in so vielen Spielen und Online-Aktivitäten abschreckend. "Die Angst junger Männer zu schüren, bringt Geld. Wir brauchen aber keinen künstlichen Stress, um ansprechende Erfahrungen zu schaffen. Liebe und Einsicht können reichhaltige und fesselnde Erfahrungen schaffen". 2016 schrieb die Kanadierin zum Start ihrer Spielefirma Tru Luv in einem Manifest ("Computerspiele sind langweilig"), dass Computerspiele eigentlich am besten geeignet sein sollten, die moderne Realität wiederzugeben und dass ihr aber immer wieder Menschen begegneten, die keine Computerspiele mögen: "Vielleicht sind alle unsere bisherigen Grundannahmen falsch".

Heute sieht sich das in Toronto ansässige Unternehmen nicht mehr als Spieleschmiede. Die Produkte des Hauses heißen "AI Companions" und sollen nicht nur ein Gegenmittel zu den adrenalingeladenen, zielorientierten Kampf- oder Flucht-Games darstellen, von denen die Spielindustrie seit einem halben Jahrhundert dominiert wird. Man kümmert sich um seinen AI Companion – und der AI Companion kümmert sich (anders als beim Tamagotchi) im Gegenzug um seinen Nutzer. "Aber es sind keine Personal Assistents", so Brie Code, "keine Apps und auch keine Spiele, sondern eine neue Kategorie von interaktion zwischen Mensch und Computer, die sich anfühlt wie Freundschaft."

Nach zehnjähriger Entwicklungsarbeit des Firmengründers Robin Arnott kann man endlich SoundSelf von Andromeda Entertainment – ja, was? Spielen? Erkunden? Erfahren? In dem "hypnotischen VR-Trip mit Stimmsteuerung" (ein Tester) fließen religiöse Zeremonien, Psychedelik, Gesang, Meditation und Hypnose zusammen und nehmen den Spieler "auf eine 'Reise nach innen' mit, die ihm eine tiefere Qualität von Stille vermittelt", so Arnott. Er möchte Software, von der die Menschen in Trance versetzt werden. "Ein halbes Jahrhundert lang hat die Industrie eine einzige Art von Spiel für eine einzige Art von Mensch geschaffen. Sie zielen auf die Produktion von Streßhormonen ab."

Das vermeintlich neue Genre kündigte sich bereits Mitte der Neunzigerjahre an. Zugleich mit der Ausbreitung des Internet tauchte ein bemerkenswertes Computerspiel auf: Myst. Es wurde gern benutzt, um Neulingen die unbekannte Welt des World Wide Web anschaulich zu machen ("Did you play Myst"). Wer Myst gespielt hatte – man bewegte sich darin intuitiv durch eine Landschaft voller Geheimnisse –, der hatte auch schon ein Gefühl dafür, wie man sich durchs Netz klickt. Das Spiel war schon reizvoll, noch ehe man es spielte. Vielen machte die detailreiche künstliche Welt Lust, sie einfach stundenlang zu durchstreifen. Manche ließen nur die atmosphärische Musik laufen. Da war etwas, das man genießen konnte, ohne sich von den sonst üblichen Kämpfen und virtuellem Gehampel hetzen zu lassen.

Ein Vierteljahrhundert später sind Computerspiele zur neuen Schwerindustrie des digitalen Zeitalters geworden. Bei vielen Projekten übertrifft der Aufwand inzwischen den von Hollywoodfilmen. Der Grad an Realismus und die Animationen in modernen Spielen sind atemberaubend, die Spielideen aber erzkonservativ. In der Milliardenbranche will keiner der großen Player mit etwas grundlegend Neuem ein Risiko eingehen.

Unabhängige Spieleentwickler wie Code und Arnott aber haben die Lust am Experimentieren wiederentdeckt. Der Spiele-Spezialist Rainer Sigl nennt diese neuen, stimmungsvollen Independent-Games "First-Person-Walker". Der Spieler ist ein unbewaffneter Flaneur, es gibt keine Monstren und keine Gegner. In #selfcare, dem ersten Ai ompanion von Tru Luv, bleibt man erstmal im Bett und kann Katzen streicheln. Manche der Walking-Games erinnern an Briefromane, in denen sich eine Story erst nach und nach entfaltet. Es sind Spiele aus der Ich-Perspektive mit wenig herkömmlicher Action, dafür aufwendig gemachten Sounds und detailversessenen Szenarien, durch die man sich bewegen kann, um Entdeckungen zu machen oder Stimmungen einzufangen. 2000 komponierte David Bowie eigens Songs für ein Computerspiel namens "The Nomad Soul", das war neu. Man betrat eine Stadt namens Omikron, die von einer Kristallkuppel überspannt und von einem dämonischen Computer beherrscht war und in der sich die Idee einer Metropole der Popkultur entfaltete. Wer sich in Omikron oder einer ihrer Satellitenstädte herumtrieb, Leute auf der Straße ansprach, Läden und Wohnungen betrat oder Seen durchschwamm, fühlte sich gewissermaßen gefragt "Did you play Internet?"

2011 erschien To The Moon, Entwickler und Komponist Kan Gao schrieb dazu: "Das ist kein Spiel ... aber vielleicht ein geeigneter Weg, eine Geschichte zu erzählen." The Stanley Parable, worin sich ein gewisser Stanley in einem leeren Bürogebäude wiederfindet und sich umzusehen beginnt, gibt sich schon nicht mehr mit einem Geschichtenverlauf zufrieden – das Spiel kann auf 18 verschiedene Weisen enden. Sonderbar faszinierende Inselwelten wie in Myst finden sich auch in späteren Neogames wie Dear Esther, wo man auf Spaziergängen Fragmente einer rätselhaften Gesgichte entdecken oder einfach nur so am Strand entlangwandern kann, oder Proteus, das auf einer Insel spielt, die sich, zusammen mit zugehörigen Klängen, fortwährend neu erzeugt, während man sie erkundet – was auch schon die Hauptaufgabe des Spiels ist.

Auch in der Nintendo-Videospielreihe Animal Crossing findet sich der Spieler einsam auf einer Insel voller niedlicher Tiere mit Untertassenaugen wieder. Alles, was es zu tun gibt, ist herumzutrödeln, zu fischen, Holz zu hacken, Ostereier zu finden und Früchte zu pflücken. Die neueste Version, Animal Crossing: New Horizons, erschien Ende März, etwa zu der Zeit, als ein Großteil der Welt in Quarantäne ging und verkaufte sich schneller und besser als alle fünf vorherigen Iterationen des Spiels. Die New York Times nannte es "das Spiel für den Coronavirus-Moment". Diese Spiele, die eigentlich gar keine Spiele mehr sein wollen, eher Meditation oder Anregung zum Tagträumen, gehören nun zum Grundbestand dessen, was man Quarantänekultur nennen könnte. Software, die einem dabei hilft, die einseitigen oder pberdrehten Folgen anderer Software zu vermeiden und Inseln im Strom der Informationsflut zu finden. Es ist wie der Unterschied zwischen Popmusik und Ambient – Kylie Minouge, die einen quietschvergnügt anhüpft oder eine Klangtapete, bei der es nichts zu gewinen gibt als angenehmen Abstand zu der leisen Alltagsapokalypse in Zeiten des oronavirus.

(bsc)