Monster am Rand der Welt

Der Unterschied zwischen einem Seeungeheuer und einem Schwarzen Loch ist gar nicht so groß wie man meinen sollte.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht
Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Glaser

Am 10. April 2019 wurde das erste Bild eines schwarzen Lochs verbreitet, ein orange glühender, unscharfer Donut in einem Ozean aus Dunkelheit. Bis dahin hatte man schwarze Löcher nur durch die Augen von SF-Illustratoren sehen können. "Es gibt nichts Besseres, als ein Bild zu haben", sagt Avi Loeb, Astrophysiker an der Universität Harvard: "Sehen ist Glauben". Aus einer Entfernung von 55 Millionen Lichtjahren hat das supermassive Schwarze Loch im Inneren der Galaxie M87 am Himmel nur einen Durchmesser von etwa 42 Mikrobogensekunden. Von der Erde aus betrachtet ist das kleiner als eine Orange auf dem Mond.

2017 schlossen sich acht Radioobservatorien zum Event Horizon Telescope Network zusammen, einem virtuellen, planetengroßen Radioteleskop. Der größte Feind der Forscher waren Regen und Schnee, die mit den Radiowellen, auf die das Riesenteleskop abgestimmt war, durcheinandergeraten konnten. "Jeden Morgen gab es eine Reihe aufwühlender Telefongespräche und Analysen von Wetterdaten und Teleskopbereitschaften. Dann trafen wir eine Entscheidung, ob wir in der Nacht beobachten konnten oder nicht", berichtet Geoffrey Bower, Astronom am Academia Sinica Institute of Astronomy and Astrophysics auf Hawaii.

Das spektakuläre Bild ist nicht das "Foto", das es zu sein scheint. Es ist Teil einer langen Tradition der diagrammatischen Darstellung des Himmels, die zurückreicht bis zu Galileo Galileis 1611 begonnenen Langzeitbeobachtungen von Sonnenflecken. Und es hat überraschend viel zu tun mit früheren Bildern einer anderen Art von Tiefenraum, die gleichfalls schwer fassbare Entitäten zeigen: Seeungeheuer. Die Carta Marina ("Seekarte und Beschreibung der nordischen Länder und deren Wunder, sorgfältig ausgeführt im Jahr des Herrn 1539") von Olaus Magnus, die früheste Landkarte Nordeuropas, ist mit ihrer Vielzahl an Tintenfischen, Walen, Walrossen und anderen Meerestieren im Nordatlantik scheinbar weit entfernt von dem Bild aus M87.

Dennoch handelt es sich bei beiden um zusammengesetzte Bilder aus verschiedenen Quellen, die analysiert und mit Hilfe von mathematischen Instrumenten mit vorhandenem Wissen verglichen wurden, um schließlich als zusammenfassende Schlussfolgerungen visualisiert zu werden. Solche selektiven, konfektionierten, zusammengesetzten Bilder – Diagramme – erlauben es uns, die Welt auf Arten wahrzunehmen, die das natürliche Sehen nicht ermöglicht.

Wie beurteilt man die Wahrhaftigkeit von Bildern, die uns aus einer sensorischen Distanz erreichen, ob ozeanischer Tiefe oder galaktischer Weite? Da es nur lückenhafte und interpretationsbedürftige Informationen gibt, erfordert die Darstellung des verfügbaren Wissens über Meeresungeheuer als auch Schwarze Löcher eine besondere Herangehensweise. Zu Olaus Zeiten schienen ferne Wunder, ob Jungbrunnen oder Monstren am Rande der Welt, die Regeln der Natur zu beugen, waren jedoch nur schwer zu beobachten. Um eines der sagenhaften Meereseinhörner zu sehen, mußten Landratten das Glück haben, in einem Kuriositätenkabinett Schädel und Horn eines Narwals vorzufinden.

Der Stil der Holzschnittkarte unterscheidet sich so sehr von den Farbfotos und Visualisierungen des 21. Jahrhunderts, dass es einem zeitgenössischer Betrachter leicht fällt, sie als unwissenschaftliche Laune abzutun. Dennoch sind solche Szenen das Renaissance-Äquivalent zu heutigen Naturdokumentationen. Der Stil dieser Bilder ergibt sich aus dem Zusammenspiel zwischen dem Medium Holzschnitt und dem Versuch des Künstlers, die Dramatik der Szene zu vermitteln – so wie auch das Bild des schwarzen Lochs eine Folge der Überschneidung von Phänomen und Technologie ist.

Alte klimatologische Theorien gingen davon aus, dass extreme Breitengrade Monster hervorbringen - kategoriebrechende Kreaturen, die durch das Klima zu grundlegend anderen Wesen deformiert werden, als sie in gemäßigteren Breiten zu finden sind. Es war also durchaus berechtigt, im hohen Norden ungewöhnliche Tiere zu erwarten. Den Versuchen heutiger Astrobiologen, Lebensformen in fernen Galaxien anhand feindlicher atmosphärischer und Gravitationsbedingungen phantasievoll zu prognostizieren, standen die Renaissancegelehrten in nichts nach. Bilder und Wissen wurden schon damals von einer Gemeinschaft aus Gelehrten, Technikern, Handwerkern, Künstlern und Augenzeugen kumuliert.

Worauf blicken wir, wenn wir das Bild aus dem Innersten von M87 betrachten? Ein schwarzes Loch zu sehen – im strengen Sinne des Empfangs elektromagnetischer Wellen im Frequenzbereich des sichtbaren Lichts – ist unmöglich. Das Bild zeigt nicht die Strahlung des schwarzen Lochs, sondern seine Abwesenheit, markiert durch heiße Gaswirbel in der Umlaufbahn, die unaufhaltsam an den Ereignishorizont hinabgezogen werden, die Volumensversion des Punkts ohne Wiederkehr. Diese Gase zu "sehen", war Aufgabe des Event Horizon Telescope Networks. Seine Schüsselaugen empfingen elektromagnetische Strahlung im Bereich von 1,3 mm, weit über der Wellenlänge des sichtbaren Lichts. Jedes der beteiligten Observatorien sammelte während einer einzigen Beobachtungskampagne Hunderte von Terabyte an Informationen an (zu viel, um sie per Internet zu senden – sie wurden auf SSD per Post verschickt).

Das endgültige Bild wurde von einem internationalen Astronomenteam entworfen, das die immense Datenmenge aus dem Unsichtbaren ins sichtbare Lichtspektrum transferierte. Die Bilder von M87 sind, wie die Meerestiere auf der Carta Marina, in diesem Sinn Diagramme, also wissenschaftliche Objekte: Bilder, die durch Destillation aus einer größeren Menge empirischer Informationen und theoretischem Material erstellt wurden, um bestimmte Merkmale hervorzuheben und Wissen erkennbar zu machen. Das Erkennen wissenstragender Bilder ist eine Herausforderung, wenn diese Bilder nicht den heutigen Erwartungen an Naturdarstellungen entsprechen. Der Stil einer Holzschnittkarte aus dem 16. Jahrhundert wird den Betrachter wahrscheinlich dazu verleiten, ihre Illustrationen als phantasievoll abzutun. Wir neigen dazu, von vormodernen Bildern einen höheren Grad an "Realismus" zu erwarten, gleichzeitig akzeptieren wir das Bild des Schwarzen Lochs weitgehend unkritisch. Betrachtet man Illustrationen von Seeungeheuern als wissenschaftliche Diagramme und nicht als fehlgeschlagene Versuche, den Akt des Sehens zu reproduzieren, macht ihr selektives, schematisches Erscheinen Sinn. Sie sind Teil einer langen visuellen Geschichte mächtiger Bilder des Kosmos.

(bsc)