Stoffe mit Helfersyndrom
Rohstoffe aus Abgasen, grüner Treibstoff, Ökodünger oder Abbau von Plastik: Wie die Katalysator-Forschung drängenden Problemen der Menschheit hilft.
(Bild: Shutterstock)
- Wolfgang Richter
"Nichts ist bedeutender in jedem Zustande, als die Dazwischenkunft eines Dritten.“ Mit diesem Satz beginnt der Roman „Die Wahlverwandtschaften“, mit dem Johann Wolfgang von Goethe 1809 die zwischenmenschlichen Wirren betrachtet, die ein Fremder unter Freunden, Ehegatten oder Liebenden auslösen kann. Gleichzeitig hat Goethe damit einem der wichtigsten Prinzipien der Chemie ein literarisches Denkmal gesetzt. Denn es ist das Motiv des Katalysators, das sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht. Von außen hinzukommende Personen mischen darin den Reigen der Protagonisten jedes Mal neu. Der Naturforscher Goethe lässt seine Figuren sogar selbst die Analogie zu chemischen Reaktionen ziehen – auch wenn sie dabei nicht das Wort Katalysator verwenden. Denn das wurde erst 1835 vom schwedischen Chemiker Jöns Jakob Berzelius erfunden.
Aber im Unterschied zu den Wahlverwandtschaften geht die Geschichte der Katalysatoren gut aus. Sie endet nicht mit einem Auseinanderbrechen menschlicher Beziehungen, sondern öffnet die Tür zu einer neuen Art des Wirtschaftens: Katalysatoren könnten wirklich grünen Kraftstoff möglich machen, die Umwelt von Plastikmüll befreien oder Kohlendioxid aus der Luft zurück in deponierbare Kohle verwandeln. Neue Entwicklungen in diesem Feld helfen, ein paar drängende Probleme der Menschheit zu lösen.
Kohlendioxid binden
Etwa 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid bläst die Menschheit jedes Jahr in die Atmosphäre. Zahlreiche Forscher weltweit versuchen, das Treibhausgas wieder aus der Luft zu holen und so die Erderwärmung zu bremsen. Aber keine der Methoden ist bisher wirtschaftlich. Wird sich das jemals ändern? Torben Daeneke von der RMIT University in Melbourne sieht dafür durchaus eine Chance. Anfang des Jahres publizierte er ein viel beachtetes Experiment. Die Forscher hatten sich einen Effekt zunutze gemacht, der eigentlich der Horror jedes Katalysatorentwicklers ist: die sogenannte Verkokung. Bei Reaktionen von Kohlenwasserstoffen bilden sich feste Nebenprodukte aus kohlenstoffhaltigen Verbindungen, die sich dann ablagern. Das kann den Katalysator unbrauchbar machen. Der Grund für die Ablagerung sind schwache elektrische Anziehungskräfte, die sogenannten Van-der-Waals-Kräfte. Daeneke musste also eine Substanz finden, bei der diese Kräfte nicht auftreten. „Wir verwenden deshalb einen Katalysator aus flüssigem Metall“, erklärt der Forscher.
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Dazu eignet sich das relativ häufig vorkommende Element Gallium. Bei 29 Grad Celsius ist es eine silbrig-weiße, ungiftige Flüssigkeit. In sie eingebettet haben die Forscher geringe Mengen des Elements Cer. Ein hochreaktiver Stoff, der übrigens vom eingangs erwähnten Berzelius entdeckt wurde, dem Erfinder des Wortes Katalysator. Das Cer hat nun die Kraft, das eigentlich sehr stabile CO2-Molekül zu spalten und sich selber mit dem Sauerstoff zu verbinden. Dieses CeCO2 kann dann durch einen elektrischen Strom, der durch das Flüssigmetall fließt, wieder zu elementarem Cer zurückverwandelt werden. Der Kohlenstoff aber verklumpt mit einigen wenigen Sauerstoffatomen zu festen, nur Nanometer dicken Plättchen. Diese scheiden sich von der Oberfläche des Flüssigmetalls ab und lassen sich leicht herausfiltern.
„Nichts würde dagegensprechen, dieses Material einzulagern“, sagt Lukas Ahrem vom Umweltbundesamt, der sich mit der australischen Studie beschäftigt hat. Einen Haken hat die Methode allerdings: „Die Energie, die bei der Verbrennung von Kohle zu CO2 entsteht, muss mindestens wieder aufgewendet werden, um aus CO2 erneut Kohlenstoff herzustellen“, betont Ahrem. „Daran kann auch der beste Katalysator nichts ändern.“ Es macht daher keinen Sinn, mit der Methode das in Kraftwerken und Fabriken produzierte Kohlendioxid in einen Feststoff zu verwandeln. Der gesamte Strom eines Kraftwerks würde für die sichere Einlagerung seiner Abgase draufgehen. Anders sähe es aus, wäre die Menschheit gezwungen, die Menge an Kohlendioxid in der Atmosphäre zu senken. Dann könnten erneuerbare Energien den Strom liefern – wenn das Verfahren effizient genug ist, um nicht gleich die gesamte Elektrizitätserzeugung aufzufressen. Diesem Ziel sind die australischen Forscher tatsächlich einen großen Schritt näher gekommen, denn bisher war dies nicht bei Raumtemperatur, sondern nur bei hohen Temperaturen von etwa 700 Grad Celsius möglich. Die Gefahr, dass sein Experiment als Ausrede für weniger Anstrengungen beim Klimaschutz missbraucht werden könnte, sieht zwar auch Daeneke. „Dennoch kann es sein, dass wir irgendwann in der Zukunft wirklich massiv Kohlendioxid aus der Atmosphäre holen müssen, um die Menschheit zu retten“, sagt er.
Tatsächlich gibt es mittlerweile mehrere Ansätze für derartige CO2-Waschanlagen. Im Unterschied zu Daenekes Ansatz wollen sie aus dem Treibhausgas jedoch keine Kohle herstellen, sondern künstlichen Kraftstoff. Der Ökostromanbieter Energiedienst etwa baut zusammen mit Audi und der Karlsruher Ineratec GmbH, einer Ausgründung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT), gerade eine Pilotanlage am Wasserkraftwerk Laufenburg in der Schweiz. Der Strom des Kraftwerks erzeugt durch Elektrolyse von Wasser den notwendigen Wasserstoff, um zusammen mit dem Kohlenstoff aus dem CO2 der Luft Kohlenwasserstoffe herzustellen. Grundlage dafür ist ein modifiziertes Fischer-Tropsch-Verfahren, das 1925 ursprünglich zur Verflüssigung von Kohle entwickelt wurde. Welche Katalysatoren hierbei eingesetzt werden, will Ineratec-Geschäftsführer Tim Böltken auch auf Nachfrage nicht verraten. Die Firma hat es aber geschafft, die dafür notwendigen Anlagen zu schrumpfen und transportabel zu machen. Nun können sie auch an kleinen Standorten eingesetzt werden. Jede Anlage soll 50 Kilogramm CO2-Treibstoff pro Stunde liefern.
Künftig könnten die Ineratec-Geräte vielleicht sogar in Klimaanlagen Verwendung finden, so zumindest ein Vorschlag von KIT-Forschern in Zusammenarbeit mit der Universität Toronto in Kanada. Ausreichend Strom aus erneuerbaren Quellen vorausgesetzt, könnte so die Abwärme der Klimaanlagen mithelfen, die notwendige Betriebstemperatur von 100 Grad Celsius für die Fischer-Tropsch-Reaktion zu liefern. Außerdem würde kein zusätzlicher Strom benötigt, um die erforderliche Luft einzusaugen – denn das macht die Klimaanlage ja eh. Noch ist die Technik viel zu klobig, um an einer Hausfassade Platz zu finden: Sie hat die Ausmaße eines Schiffscontainers. Trotzdem hat das Forscherteam schon mal ausgerechnet, wie viel Biokraftstoff man mit einem derart klimatisierten Messeturm in Frankfurt am Main herstellen könnte. Das markante Hochhaus in der Bankenstadt würde bis zu 500 Kilogramm Treibstoff in der Stunde liefern.
Abgase in Rohstoffe verwandeln
Gleißende Fackeln im tiefblauen Himmel der Abenddämmerung. Diese Industrieromantik findet man zumindest bei Stahlwerken nur noch selten. Meist wird das bei der Stahlherstellung anfallende Hüttengas vollständig thermisch genutzt – zum Heizen oder zur Stromerzeugung. Doch bei der thermischen Nutzung entsteht das Treibhausgas Kohlendioxid. Deshalb sollen aus dem Hüttengas jetzt wertvolle Industriechemikalien werden. Seine chemische Zusammensetzung würde das durchaus hergeben. Hüttengas enthält neben CO2 auch Kohlenmonoxid (CO), Methan sowie Wasserstoff und Stickstoff. Aber wie werden aus Abgasen wieder Rohstoffe? 17 Partner aus Wissenschaft und Industrie, darunter der Stahlhersteller Thyssenkrupp und zwei Max-Planck-Institute, wollen nun im Projekt Carbon2Chem die Frage beantworten – und ein Schlüssel sind Katalysatoren. Die stecken zum einen in Elektrolysezellen, die Wasserstoff aus Wasser mithilfe von Strom aus erneuerbaren Energien herstellen, wie bei den Anlagen von Ineratec. Der Grund: Für die Erzeugung von Kohlenwasserstoffen ist im Hüttengas selbst zu wenig Wasserstoff vorhanden.
„An die Katalysatoren stellt das Projekt zwei große Herausforderungen“, sagt Walter Leitner, Direktor am Max-Planck-Institut für Chemische Energiekonversion. Denn Strom aus Wind oder Sonne schwankt – die bewährten Katalysatoren funktionieren aber nur im kontinuierlichen Betrieb. „Zum anderen schwankt auch die genaue Zusammensetzung des Hüttengases“, erzählt Leitner. Dies könne einen Katalysator schnell zerstören.
Erste Erfolge haben sich trotzdem eingestellt: Im vergangenen Sommer wurde am Standort von Thyssenkrupp in Duisburg eine Versuchsanlage eingeweiht, die den Industriegrundstoff Methanol herstellt. In spätestens 15 Jahren soll eine marktreife Technologie zur Verfügung stehen.
Plastik abbauen
Drei Jahre ist es her, dass japanische Wissenschaftler über einen außergewöhnlichen Fund in der Hafenstadt Sakai berichteten. Dort, auf dem Gelände einer Recyclinganlage für PET-Flaschen, stießen sie auf Bakterien, die sich genau von dieser Plastiksorte ernährten. „Der Fund war sehr erstaunlich, denn PET ist unglaublich beständig“, sagt John McGeehan von der Universität Portsmouth in England. Das für die Zersetzung verantwortliche Enzym erhielt den Namen PETase. Aber eine große Frage blieb, so McGeehan: „Wie konnten es die Bakterien evolutionär entwickeln, wenn PET erst seit etwa 50 Jahren in größeren Mengen in der Umwelt zu finden ist?“
Am nationalen Elektronen-Synchrotron in Oxford beschossen McGeehan und sein Team das Enzym mit intensiven Röntgenstrahlen. Dabei stellten sie fest, dass seine Struktur sehr ähnlich ist zu der des Enzyms Cutinase. Mit seiner Hilfe können Bakterien eine Cutin genannte Schutzschicht auf Pflanzenblättern durchbrechen. „Um das näher zu untersuchen, haben wir an einigen Stellen die PETase-Bausteine durch Cutinase-Bausteine ausgetauscht“, erklärt McGeehan. „Eigentlich erwarteten wir, dass dadurch die PETase ihre Eigenschaft verliert, PET zu zersetzen.“ Doch zu ihrer Überraschung passierte das Gegenteil: Die Leistung des Enzyms stieg um 20 Prozent. Genauere Analysen ergaben, dass die Forscher die PETase zufällig so verändert hatten, dass die langkettigen PET-Moleküle noch besser an jene Stelle des Enzyms geleitet wurden, an der die Katalyse stattfindet.
McGeehan glaubt, dass noch weit mehr als 20 Prozent möglich sind. Andere Enzyme, zum Beispiel Fettlöser für Waschmittel, seien innerhalb weniger Jahre um den Faktor 1000 verbessert worden, etwa bei den Reaktionsgeschwindigkeiten. Dies möchte er nun auch für PETase erreichen. „Außerdem gibt es jetzt viele Forscher, die nach Bakterien suchen, die andere Plastiksorten zersetzen können.“
Damit lieĂźe sich der Stoffkreislauf schlieĂźen. Die Enzyme wĂĽrden Plastik in seine Grundbausteine zerlegen, aus ihnen lieĂźe sich wieder reiner Kunststoff herstellen.
Ob derartige Enzyme den Plastikmüll auf den Weltmeeren beseitigen könnten, mag McGeehan nicht beurteilen. Es wäre auch ein gefährliches Experiment: Schließlich würden die Substanzen dann auch allen gewünschten Kunststoff zersetzen – von Bojen bis hin zu Bootsrümpfen. Wahrscheinlich ist daher, die Substanzen in geschlossenen Anlagen einzusetzen, um Plastik preiswerter, energiesparender und hochwertiger recyceln zu können. Seine verbesserte PETase jedenfalls hat McGeehan bereits zum Patent angemeldet.
Benzin aus Bäumen gewinnen
Eine Milliarde neue Bäume, so viele will die Regierung Neuseelands bis zum Jahr 2028 pflanzen. „Ein Teil dieser Bäume könnten Energiewälder werden“, sagt Paul Bennett vom staatlichen Umweltforschungszentrum Scion. In einer Pilotanlage erhitzen die Forscher Holzspäne unter Luftabschluss innerhalb von wenigen Sekunden auf 450 Grad Celsius. Der entstehende Dampf wird aufgefangen und kondensiert, das Ergebnis dieses Pyrolyse genannten Vorgangs ist eine Flüssigkeit, das Pyrolyseöl.
Das Verfahren ist ziemlich effizient, aus einem Kilogramm Holz entstehen 700 Gramm Öl, und es wird auch bereits industriell genutzt. In den USA etwa trägt Öl aus Holzabfällen zur Wärmeerzeugung in Fabriken bei.
„Um ölbasierte Kraftstoffe wirklich zu ersetzen, muss man das Pyrolyseöl aber noch veredeln“, erklärt Bennett. Dabei geht es vor allem darum, den hohen Sauerstoffanteil des Öls zu reduzieren. Als vielversprechend haben sich dabei unter anderen die sogenannten Zeolith-Katalysatoren erwiesen. Dies sind Kristalle, die immer aus Aluminiumoxid und Siliziumoxid sowie einer dritten Atomsorte bestehen. Ihr Vorteil sind die mikroskopisch kleinen Poren. In diesen Zwischenräumen können sich die Atome der miteinander reagierenden Stoffe leicht anlagern. Das vereinfacht die chemische Reaktion.
Noch sind die Veredelungsversuche nicht über kleine Pilotanlagen hinausgekommen. „Das Endziel sind Drop-in-Biokraftstoffe, die im Gegensatz zu Bioethanol und Biodiesel identische Eigenschaften haben wie fossile Kraftstoffe und daher bedenkenlos und in jedem Verhältnis mit ihnen vermischt werden können“, sagt Bennett.
Eine groß angelegte Studie seines Instituts hat Anfang 2018 gezeigt, dass solche Drop-in-Biokraftstoffe aus Bäumen tatsächlich die ökologisch und wirtschaftlich beste Variante für Neuseeland sind. Vorausgesetzt, dass die Bäume aus Wäldern stammen, die keine Ackerflächen sein könnten.
Im Herbst sind nun auch die Europäer auf den Zug aufgesprungen. Im Projekt Redifuel wollen sie das bereits 1925 in Mülheim entwickelte Fischer-Tropsch-Verfahren nutzen, um Biomasse in Drop-in-Biokraftstoffe umzuwandeln. Im ersten Schritt entstehen bei bis zu 900 Grad Celsius Kohlenmonoxid (CO) und Wasserstoff. Diese Gase werden dann in flüssige Kohlenwasserstoffe umgewandelt. Das geschieht traditionell mit Kobalt oder Eisen als Katalysator. Die Veredelung zu Drop-in-Kraftstoff soll dann mit Kobalt- oder Rhodium-Komplexverbindungen stattfinden. Weil sich hierbei zwei Flüssigkeiten mischen, ist es allerdings schwierig, beide am Schluss voneinander zu trennen. Ergebnisse ihrer Versuche wollen die Forscher in drei Jahren vorstellen.
Umweltfreundlich DĂĽnger herstellen
Ammoniak ist die Grundlage für Kunstdünger. Bisher wird das Molekül großindustriell im extrem energieintensiven Haber-Bosch-Verfahren hergestellt. Nötig sind Temperaturen von 500 Grad und Drücke von 200 Atmosphären. Ein bis zwei Prozent des weltweiten Energiebedarfs gehen dafür drauf. Ende April haben Forscher der Universität Tokio eine Methode vorgestellt, die bei normalen Temperaturen und Drücken funktioniert. Den Trick erklärten sie in der Fachzeitschrift „Nature“: Sie haben einen Molekülkomplex entwickelt, dessen Funktion sich an das Enzym Nitrogenase anlehnt. Bakterien nutzen es, um molekularen Stickstoff (N2) in eine biologisch verfügbare Form umzuwandeln. Dabei entsteht auch Ammoniak. Bisher war das Enzym aber nicht industriell einsetzbar. Der neue Komplex scheint sich nun eher zu eignen. Im Labor produziert er Ammoniak bis zu 500-mal schneller als das Haber-Bosch-Verfahren. Vor allem aber, so glauben die Japaner, lohnt sich ihre Technik auch in kleinem Umfang. So könnte künftig jeder Bauer seinen eigenen Dünger herstellen – nur mit Stickstoff aus der Luft, Wasser und Strom aus erneuerbaren Energien.
Nach neuen Kandidaten suchen
Die Suche nach geeigneten Katalysatoren ist aufwendig. Sie beruht trotz moderner Verfahren vor allem auf Versuch und Irrtum. „Zwar konnten die Theoretiker in den letzten zehn Jahren durch quantenmechanische Berechnungen immer besser vorhersagen, wie wirkungsvoll ein Katalysatormaterial sein wird“, sagt Ferdi Schüth vom Max-Planck-Institut für Kohlenforschung in Mülheim. Doch wenn es darum gehe, das Verhalten eines Katalysators unter Industriebedingungen vorauszusagen, sehe es noch ziemlich düster aus. „Wie stabil ein Katalysator ist, wie leicht er etwa durch kleinste Verunreinigungen in den Ausgangsstoffen deaktiviert werden kann, das können wir auch heute nur durch Experimente herausfinden.“ Mit sogenannten Hochdurchsatzverfahren können die Entwickler inzwischen immerhin Hunderte Varianten gleichzeitig testen. Schüth hat dafür vor 20 Jahren die Firma hte in Heidelberg gegründet, die heute mit über 300 Mitarbeitern Weltmarktführer auf dem Gebiet ist.
Große Chancen sehen Forscher daher in natürlichen Enzymen. Schließlich haben sie ihre Tauglichkeit grundsätzlich bewiesen. Ein entscheidender Durchbruch kam, als Frances Arnold vom California Institute of Technology in den USA Mitte der 90er-Jahre die Methode der gerichteten Evolution erfand. Spätestens als sie 2018 den Nobelpreis für Chemie erhielt, war klar, welche Macht ihre Idee besitzt. Hunderte Millionen Jahre Evolution ließen sich plötzlich in ein paar Jahren im Labor nachholen. „Enzyme sind oft extrem kompliziert, und niemand weiß wirklich, wie man neue Funktionen einbauen soll“, erklärt Arnold. „Das muss man aber auch gar nicht, wenn man die Evolution zu Hilfe nimmt.“ Die Chemikerin geht dafür von dem Gen für die Produktion eines bekannten Enzyms aus. Dieses vervielfältigt sie nun so, dass beim Kopieren automatisch viele Fehler entstehen. Sie erschafft Mutationen. Diese fehlerbehafteten Kopien baut sie in Bakterien ein, die dann mutierte Enzyme produzieren.
Nun folgt die Auslese, etwa indem man die Lebensbedingungen so zuschneidet, dass nur geeignete Bakterien überleben. Alle Kandidaten, die schon positive Eigenschaften gezeigt haben, kommen in die nächste Runde, die wieder mit dem fehlerbehafteten Kopieren beginnt. Nach durchschnittlich zehn solcher Runden steht ein neues Enzym mit einer bestimmten katalytischen Eigenschaft zur Verfügung. Das gelingt umso besser, je leistungsfähiger das Startenzym ist. „Wenn Sie ein Rennpferd wollen, sollten Sie nicht mit einem Käfer anfangen“, sagt Arnold. So hat ihr Labor ein Enzym entwickelt, das aus einfachen Zuckern Isobutanol macht, das für Biokunststoffe und -kraftstoffe verwendet wird.
Mittlerweile wendet auch die Industrie die gerichtete Evolution an, um Enzyme den dort notwendigen Produktionsbedingungen anzupassen. So konnten Enzyme schon oft andere Verfahren ersetzen, die Schwermetalle oder sonstige Giftstoffe freigesetzt hatten. Aber das Ende der Entwicklung dĂĽrfte noch lange nicht erreicht sein.
Mithilfe der gerichteten Evolution hat Francis Arnold inzwischen sogar Enzyme entwickelt, die Verbindungen aus Kohlenstoff und Silizium herstellen können. Diese kommen in der Natur nicht vor, obwohl Silizium zu den häufigsten Elementen auf der Erde gehört und beide Elemente sich chemisch sehr ähnlich sind. Zwar war es schon vorher möglich, Kohlenstoff-Silizium-Verbindungen künstlich herzustellen – sie finden sich zum Beispiel in Medikamenten und Farben. Arnold aber konnte zeigen, dass dies prinzipiell auch biologisch geschehen kann. Damit befeuerte sie Spekulationen über außerirdische Lebensformen, die nicht wie wir auf Kohlenwasserstoffen, sondern auf Siliziumwasserstoffen beruhen – oder auf einer Kombination aus beiden. „Wir konnten zeigen, dass es sehr einfach für das Leben wäre, Silizium in seine Moleküle zu integrieren“, sagt Arnold. „Und wenn es möglich ist, wird es wahrscheinlich irgendwo im Universum auch passiert sein.“
(bsc)