Der unsichtbare Diktator

Die Digitalisierung hat subtile Formen der Einflussnahme hervorgebracht, mit denen sich Wahlen gewinnen lassen und alles, was wir sagen, denken und tun, manipulierbar wird.

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Lesezeit: 6 Min.
Von
  • Peter Glaser

2012 begann der amerikanische Psychologe Robert Epstein sich zu fragen, ob die auf den Spitzenplätzen der Trefferliste einer Suchmaschine angezeigten Ergebnisse womöglich mehr können als nur Verkaufszahlen zu beeinflussen. Ein Experiment, das Epstein zusammen mit seinem Mitarbeiter Ronald Robertson am American Institute for Behavioral Research and Technology (AIBRT) durchführte, erbrachte ein unerwartetes Ergebnis. Den drei Teilnehmergruppen waren Trefferlisten angeboten worden, die in der ersten Gruppe einen politischen Kandidaten favorisierten, in der zweiten Gruppe einen gegnerischen Kandidaten und in der dritten – der Kontrollgruppe – eine Mischung von Suchergebnissen, die keinem der beiden Kandidaten den Vorzug gab. Alle Teilnehmer bekamen die gleichen Trefferlisten vorgelegt; der einzige Unterschied war die jeweils andere Reihenfolge, in der die Ergebnisse aufgelistet waren.

Die Voraussagen von Epstein und Robertson, wie viele der Teilnehmer sich dem suggerierten Kandidaten zugeneigt fühlen würden, lagen bei zwei bis drei Prozent. Und das fanden sie tatsächlich vor: Der Anteil der Teilnehmer, die den Spitzenkandidaten der Suchmaschine bevorzugten, stieg um 48,4 Prozent. Das Phänomen erhielt die Bezeichnung Search Engine Manipulation Effect (SEME, im Englischen ausgesprochen wie "seem", zu Deutsch scheinen). Während der Versuchsreihen fanden die Psychologen heraus, wie man die Manipulation der Suchreihenfolge so maskieren konnte, dass niemand mehr auf die Idee kam, es könne sich um ein mit Absicht umgebautes Ranking handeln. Dazu nahmen sie einfach auf der ersten Seite der Trefferliste, unauffällig an dritter oder vierter Stelle, ein Ergebnis mit auf, das den jeweils anderen Kandidaten begünstigte. Dadurch war dem Anschein von Ausgewogenheit offenbar Genüge getan und sie konnten munter weiter manipulieren. Sie waren nun unsichtbar. Besonders beunruhigend fand Epstein, dass einem Großteil der Teilnehmer nicht bewusst war, dass sie voreingenommene Rankings sahen – mit anderen Worten, dass sie manipuliert wurden.

Die gängigen Versuche der Einflussnahme in einem Wahlkampf werden durch konkurrierende Angebote, etwa eine Vielzahl von Zeitungen, von Radiosendungen, von Fernsehsendern ausgeglichen. Google aber hat keine Konkurrenz und die Menschen vertrauen den Suchergebnissen in der Annahme, der geheimnisvolle, Relevanz erschnuppernde Sortieralgorithmus sei stets objektiv und unvoreingenommen. Folgt man Epstein und Robertson, dann hat Google inzwischen die Macht, mehr als 25 Prozent der nationalen Wahlen auf diesem Planeten zu manipulieren, und zwar ziemlich sorglos. Denn ohne die flüchtigen Trefferlisten wäre ein Nachweis, dass sie absichtlich geändert wurden, nicht zu erbringen. Die Forscher schätzen, "dass mit oder ohne bewusste Planung seitens der Unternehmensführung die Suchranglisten von Google bereits seit Jahren die Wahlen beeinflussen, und zwar mit von Jahr zu Jahr wachsender Wirkung."

Eine neue Verschwörungstheorie? "Unsichtbare Macht in diesem Ausmaß ist in der Geschichte der Menschheit ohne Beispiel", mahnte Epstein im Vorlauf der amerikanischen Präsidentschaftswahlen 2016. Die demokratische Kandidatin Hillary Clinton nutzte soziale Medien ausgiebig, um Unterstützer zu gewinnen. Mit rund 5,5 Millionen Followern auf Twitter war sie dem Spitzenreiter der Demokraten, Donald Trump, mit seinen 5,9 Millionen Followern allerdings klar unterlegen. Sind soziale Medien inzwishen eine ebensolche Bedrohung für die Demokratie, wie es die Trefferlisten der Großen Suchmaschine zu sein scheinen? Nicht alle, eigentlich nur der neue Medienmoloch Facebook.

Eine Studie des Sozialwissenschaftlers James Fawler und weiterer Wissenschaftler befasste sich bereits vor acht Jahren mit einem fragwürdigen Experiment, bei dem Facebook am Tag der Kongresswahlen 2010 an mehr als 60 Millionen seiner US-Nutzer eine Nachricht schickte, dass sechs ihrer Freunde bereits gewählt hätten. Rund 340.000 Bürger, die sonst Nichtwähler geblieben wären, ließen sich so zur Stimmabgabe breitschlagen. War das nun freundliche Hilfe, um Wahlmüdigkeit zu vertreiben – oder eine Trainingsrunde in der neuen Disziplin diskreter Umgestaltung von Wahlergebnissen? Angesichts der Berge an Informationen, die Facebook über seine Nutzer anhäuft, ließen sich solche Nachrichten mühelos nur an Personen senden, die eine bestimmte Partei oder einen bestimmten Kandidaten unterstützen.

?Werbung selektiv an bestimmte Nutzer zu senden – damit verdient Facebook sein Geld. Ob der taubenblaue Riese auf diese Weise Wahlen manipuliert, könnte wohl niemand belegen, "aber meiner Meinung nach wäre es töricht, wenn Facebook es nicht tun würde", merkt Epstein an. Tatsächlich müssen nicht immer gleich russische Troll-Fabriken am Werk sein, wenn Wahlen manipuliert werden sollen, wie nicht zuletzt der Skandal um das Datenveredelungs-Unternehmen Cambridge Analytica zeigte, zu dessen Gründungsmitgliedern Donald Trumps ehemaliger Chefstratege Steve Bannon gehörte. Zudem ist es einfach so, dass sich Unternehmen von manchen der zur Wahl stehenden Kandidaten mehr Vorteile versprechen als von den anderen. Auch die Führungskräfte von Facebook haben eine treuhänderische Verantwortung gegenüber ihren Aktionären, den Interessen des Unternehmens stets Vorrang zu geben.

Die zweifellos eindrucksvollen Facebook-Nutzerprofile verblassen dennoch im Vergleich zu denen von Google. Neben der Suchmaschine nutzt das Unternehmen mehr als 60 weitere Beobachtungsplattformen wie Gmail, Google Maps, Adwords, Google Analytics, Chrome, Google Wallet, Android, Google Docs, YouTube und so weiter, um Tag und Nacht Nutzerinformationen zu inhalieren. Wollten die Jungs bei Google also eine Wahl frisieren, könnten sie exakt diejenigen Wähler identifizieren, die noch unentschlossen sind und ihnen bis zum Wahltag zu allen Suchanfragen angepasste Trefferlisten schicken, die einen bestimmten Kandidaten bevorzugen.

Spätestens seit den Enthüllungen von Edward Snowden liegt auf der Hand, dass wir uns rasch auf eine Welt zubewegen, in der sowohl Regierungen als auch Unternehmen Fantastillionen an Daten über jeden von uns zusammentragen, ohne dass die Verwendung dieser Daten nennenswert reguliert wäre. Läßt man nicht Onkel Dagobert, sondern eine richtig böse Ente in diesem Daten-Piratenschatz baden, eröffnen sich – Stichwort chinesisches Sozialkreditsystem – beängstigende Möglichkeiten. Die vielleicht beängstigendste davon hat der 1993 verstorbene US-Wirtschaftswissenschaftler Kenneth Boulding so umrissen: "Eine Welt der unsichtbaren Diktatur ist denkbar, die sich noch der demokratischen Regierungsformen bedient."

(bsc)