Filmkamera für den Zellstoffwechsel

Modifizierte E.-coli-Bakterien speichern die Aktivität von Genen wie eine Schallplatte.

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Filmkamera für den Zellstoffwechsel

(Bild: Martin Oeggerli/Micronaut)

Lesezeit: 3 Min.
Von
  • Veronika Szentpetery-Kessler
  • Adam Piore

Man stelle sich vor, die Polizei will ein Verbrechen aufklären, doch die Sicherheitskameras haben vom Geschehen nur wenige Einzelaufnahmen geschossen – und die entscheidenden Szenen sind leider nicht dabei. In einer vergleichbar misslichen Lage befanden sich Forschende bisher, wenn sie die molekularen Grundlagen von Krankheiten wie Krebs, Stoffwechselstörungen oder psychische Leiden verstehen wollten. Solche Krankheiten entstehen, weil nacheinander verschiedene Gene – teils schon während der Entwicklung im Mutterleib – nicht mehr oder falsch abgelesen werden. Ist der Genexpressionsfilm zu lückenhaft, bleibt der Tathergang unklar. Damit fehlen mögliche Ansatzpunkte, um die Störung zu heilen.

„Man führt Experimente zu bestimmten Zeitpunkten durch und muss dann erraten, was dazwischen passiert ist“, sagt Biotechnologe Randall Platt, der am Baseler Biosysteme-Departement der ETH Zürich forscht. „Ich wollte eine Technologie, die diese Lücken füllt und zeigt, was während des gesamten Übergangs in den Zellen passiert.“

Deshalb begann der Amerikaner noch während seiner Doktorarbeit am Massachusetts Institute of Technology, mit einer Variante des Crispr-Cas-Systems – zu der auch die populäre Genschere gehört – gewissermaßen ein Aufnahmegerät für Genaktivitäten zu entwickeln. Das „Record-seq“ getaufte Verfahren archiviert molekulare Ereignisse in einer Zelle chronologisch. Oder um beim Eingangsbild zu bleiben: Die Sicherheitskamera macht einen Film statt Einzelbilder.

Ursprünglich stammt das Crispr-Cas-System aus Bakterien und Archaeen, die es als Immungedächtnis benutzen: Sie speichern damit in einer Art Fahndungsakte vor allem Erbgut-Abschnitte von Viren, um die Eindringlinge später wiederzuerkennen und abzuwehren. Die DNA-Stücke ordnen sie in ihrem eigenen Erbgut wie Perlen auf einer Schnur chronologisch an.

Platts Team verpflanzte vier Rekorder-Elemente aus dem Darmbakterium Fusicatenibacter saccharivorans in Escherichia coli, den Lieblingskeim der Forscher: die stets gemeinsam auftretenden Gene hinter den Cas-Proteinen Cas1 und 2, dazu ein Enzym, das RNA in DNA zurückübersetzen kann, und schließlich einen DNA-Ring (Plasmid) als molekulare Filmrolle. Das ist im Prinzip schon seine Record-seq-Maschinerie. Platts Team machte sie effektiver als die Naturvariante und vor allem wie eine echte Kamera an- und abschaltbar. In die Zelle eingeschleust, begann der molekulare Rekorder dann alles, was er an freier RNA im Bakterium vorfand, in DNA zurückzuübersetzen und auf dem Plasmid abzulegen.

Platt testete sein System mit der Reaktion des Bakteriums auf ein Herbizid. Um den Genfilm anzusehen, der in den Colibakterien abläuft, wenn sie sich gegen das Herbizid wehren, muss Platt die Ringe anschließend aus den Bakterien extrahieren und entziffern.

Derzeit funktioniert der Gen-Rekorder nur unter Laborbedingungen. Platt möchte ihn aber später zum Beispiel direkt im Darm von Patienten nutzen – als Diagnosehilfe. Er ist überzeugt, aus den Aufzeichnungen der Bakterien auf den Gesundheitszustand des menschlichen Wirtes schließen zu können. Darüber hinaus hofft er, mit dem weiter angepassten Record-seq auch Veränderungen von Neuronen bei Autismus aufklären zu können. „Das war das biologische Problem, das mich motiviert hat, das Aufnahmewerkzeug zu entwickeln.“ Deshalb passt er sein Aufnahmegerät auch an andere Bakterien- und Säugetierzellen an. Für seine Entwicklung hat die US-Ausgabe von Technology Review Platt im Juni als einen der besten „Innovatoren unter 35“ ausgezeichnet.

(bsc)