App-Desaster am Warntag: Warum die Infrastruktur ein Problem ist

Am ­bundesweiten Warntag 2020 blieben viele Handys stumm. Die Warn-Apps ­benachrichtigten viele Nutzer zu spät oder gar nicht. Ursache dafür: die Infrastruktur.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 439 Kommentare lesen
App-Desaster am Warntag

(Bild: chainarong06/Shutterstock.com)

Lesezeit: 8 Min.
Von
  • Urs Mansmann
Inhaltsverzeichnis

Der 10. September sollte die Nagelprobe für die Warnung der Zivilbevölkerung im Katastrophenfall werden. Bundesweit sollten Sirenen ertönen, Warntafeln aufleuchten und Smartphones Alarm schlagen. Um genau 11 Uhr sollte das Spektakel beginnen, die Entwarnung war für 11:20 Uhr angesetzt.

Warn-Apps, die Meldungen an die Anwender pushen, sind inzwischen ein wichtiger Baustein des Zivilschutzes. Der gut vorbereitete Test scheiterte jedoch vollkommen überraschend und drastisch, denn viele Smartphones gaben keine Alarmmeldung aus.

Das wäre nicht so fatal, wenn Deutschland nicht nach dem Ende des Kalten Kriegs entschieden hätte, die vielerorts fest installierten Warnsirenen abzubauen. Nur noch wenige Kommunen unterhalten ein Sirenennetz, das die Bevölkerung im Ernstfall zeitnah alarmieren könnte. An deren Stelle sollten schon lange moderne technische Lösungen getreten sein, die aber nicht so funktionieren, wie sie sollen.

Deshalb warnt man heute vielerorts noch so wie vor vielen Jahrzehnten: Tritt überraschend eine dringende Notlage ein, wird die Polizei mit Lautsprecherwagen in Marsch gesetzt. Allerdings gibt es große Unterschiede, wie die Länder und Kommunen das Thema angehen: Das stets von Sturmfluten bedrohte Hamburg beispielsweise unterhält auch heute noch ein funktionierendes Sirenennetz und warnt bei drohenden Sturmfluten im Hafengebiet zusätzlich durch Böllerschüsse.

Warn-Apps sind ein wichtiger Baustein, weil sie auch bei stummgeschaltetem Handy mitten in der Nacht Krach schlagen, wenn etwa wegen eines Brandes Fenster geschlossen werden müssen oder ein Hochwasser droht. Gerade nachts ist der Weckeffekt sehr wichtig; Durchsagen im Rundfunk oder Warnungen auf Anzeigetafeln erreichen niemanden, der gerade im Bett liegt. Allerdings hängt die Wirksamkeit der Warn-Apps davon ab, dass möglichst viele Anwender sie auch installieren und korrekt konfigurieren.

Ideen, wie man im Ernstfall Weckrufe auf anderem Wege absetzen könnte, gibt es viele. Beispielsweise könnten eines Tages die Hupen smarter Autos oder vernetzte Rauchmelder in den Haushalten die Betroffenen aus dem Schlaf reißen. Da Smart-City-Anwendungen in Deutschland aber noch nicht so richtig weit verbreitet sind und standardisierte Schnittstellen zu solchen Systemen oft fehlen, wird es noch viele Jahre dauern, bis das in die Praxis umgesetzt werden kann.

Die Warn-Apps sind ebenfalls eine Smart-City-Anwendung im weiteren Sinne. Sie arbeiten standortbezogen und stellen die Warnungen gezielt zu – deswegen benötigen sie Zugriff auf die Standortdaten des Smartphones, um dynamisch für den jeweiligen Aufenthaltsort zu warnen. Für die meisten Nutzer dürfte es sinnvoll sein, zusätzlich die Koordinaten des Wohnorts oder Arbeitsplatzes anzugeben, um auch dafür Warnungen zu erhalten, wenn man gerade woanders unterwegs ist.

Die Warnmeldungen von den Katastrophenschutzbehörden in den Landkreisen und kreisfreien Städten sowie den Lagezentren der Bundesländer und des Bundes werden zentral im MoWaS (Modulares Warnsystem) des Bundesamtes für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) ausgelöst und verteilt. Warnungen erfolgen dabei stets nur für einen begrenzten Zeitraum und ein genau bezeichnetes Gebiet. Bundesweite Alarme wie der Probealarm am Warntag waren dabei in der Praxis erstmals bei der Corona-Pandemie zu verzeichnen.

In Deutschland sind derzeit drei etablierte Warn-Apps am Start: Nina, Katwarn und Biwapp. Alle drei tauschen seit Februar 2019 untereinander Nachrichten aus. Auf diesem Wege erreichen alle Meldungen, egal wie sie in eines der Systeme gelangt sind, alle betroffenen Nutzer aller drei Apps.

Die Systeme hinter den Warn-Apps haben Schnittstellen, über die sie Warnmeldungen direkt erfassen und verarbeiten können, etwa von Behörden und Wetterdiensten. Bei Katwarn gibt es einen Redaktionsdienst, der diese Eingaben betreut und das System beaufsichtigt.

Die Warn-Apps arbeiten stets standortbezogen und verschicken die Meldungen gezielt nur an Betroffene.

Wer sichergehen will, sollte im Webauftritt seines Landkreis beziehungsweise seiner Stadtverwaltung dennoch eruieren, mit welcher der drei Warn-Apps diese direkt Daten austauscht und diese App installieren. Das erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass man Warnungen für den jeweiligen Standort zeitnah und zuverlässig zugestellt bekommt.

Genau das machte auch am Warntag den entscheidenden Unterschied: Wer beispielsweise in einem Kreis unterwegs war, der Katwarn nutzt, und Katwarn als Warn-App einsetzte, erhielt die Alarmmeldung schlimmstenfalls mit einigen Minuten Verzögerung. Andere warteten lange auf die Alarmmeldung – wenn sie denn überhaupt eintraf.

An den Mobilfunknetzen lag es jedenfalls nicht: Selbst wenn Warnungen innerhalb kürzester Zeit an zahlreiche Anwender zugestellt werden, können 3G- und 4G-Mobilfunkzellen die dafür notwendigen Datenmengen ohne Probleme schultern. Eng könnte es erst nach der erfolgreichen Zustellung werden, wenn derart aufgeschreckte Nutzer gleichzeitig und zahlreich auf dem Alarm reagieren und beispielsweise zum Telefon greifen oder Daten im Internet abrufen.

Katwarn ist ein Projekt der öffentlichen Versicherer, die Programmierung liegt beim Fraunhofer-Institut für Offene Kommunikationssysteme, kurz Fokus. Projektleiter Daniel Faust erklärte im Gespräch mit ct, warum lange nicht alle Warnungen ankamen: "An unserem System sind zahlreiche Kommunen direkt angeschlossen. Am Warntag kamen darüber zahlreiche Meldungen herein, die wir innerhalb von Minuten alle zugestellt haben. Allerdings übergab das bundesweite System MoWaS seine Alarmierungen nur teilweise an Katwarn. Deshalb haben viele Anwender keine oder verspätete Warnung erhalten, obwohl unser System einwandfrei funktionierte."

Dass die Probleme an MoWaS lagen, bestätigte uns auf Nachfrage auch der Sprecher des Bundesinnenministeriums, Björn Grünwälder, der auch für die Warn-App Nina des Bundesamts für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe (BBK) zuständig ist: "Der fehlgeschlagene bundesweite Warntag am 10. 9. 2020 steht nicht im Zusammenhang mit der Warn-App Nina."

Probleme mit Nina habe es lediglich beim ersten Warntag 2018 in Nordrhein-Westfalen gegeben. Dabei hätten sich "Schwächen in der Bewältigung von Lastspitzen" gezeigt. Das habe man umgehend behoben, beim ebenfalls noch auf NRW beschränkten Warntag 2019 habe die App die Lastspitze problemlos verarbeiten können. Derzeit werde die App von geschätzt 9,2 Millionen Anwendern genutzt, die Kapazität reiche aber für 40 Millionen aus.

Die Warn-App Biwapp verarbeitet nicht nur Warnmeldungen, sondern auch Service-Meldungen der Kommunen wie Verkehrshinweise oder Schulausfälle.

Grund für die aktuellen Probleme sei ein Designfehler in der Programmierung von MoWaS. Grünwälder führt aus: "Gemäß Angaben des Dienstleisters für den Betrieb des modularen Warnsystems führte ein hohes Aufkommen gleichzeitiger Datenbankabfragen der Anwender zu der Systemüberlastung, die ursächlich für die verzögerte Meldungsverarbeitung war." Nachdem die Warnung von MoWaS verspätet erfolgt sei, habe Nina die Warnungen innerhalb weniger Sekunden ausgeliefert.

Offenbar entwickelte die Situation dann zusätzlich eine fatale Eigendynamik: Als die Verantwortlichen im Katastrophenschutz feststellten, dass ihre Meldungen nicht ankamen, schickten einige sicherheitshalber wohl noch weitere Meldungen hinterher, was das akute Lastproblem noch zusätzlich verschärfte, berichteten einige Medien.

Eine lastfeste Alternative zu einer App-Lösung wären Cell Broadcasts, wie sie in anderen EU-Ländern eingesetzt werden, etwa den Niederlanden oder Rumänien. Solche Nachrichten werden für alle Teilnehmer in einer Funkzelle ausgestrahlt. Das funktioniert aber nur für den aktuellen Standort. Durch zyklische Wiederholung der Nachrichten bekommen auch Teilnehmer eine Meldung, die ihr Gerät später einschalten, vorübergehend keinen Empfang hatten oder im Warngebiet eintreffen.

Warnungen erfolgen stets für ein bestimmtes Gebiet. Bundesweite Alarme kommen in der Praxis fast nie vor.

(Bild: Fraunhofer FOKUS/O. Lang)

Die deutschen Netzbetreiber nutzen Cell Broadcast aber schon seit vielen Jahren nicht mehr; man müsste also zunächst einmal die Technik dazu installieren. Eine Alarmierung per SMS wiederum scheitert an den Kapazitäten im Mobilfunk, weil sie jedem Nutzer einzeln zugestellt werden müsste. Wollte man alle Nutzer in einem dicht besiedelten Gebiet per SMS warnen, würde der Versand der Nachrichten zu lange dauern.

Der krachende Fehlschlag zog bereits personelle Konsequenzen nach sich: Der Chef des BBK, Christoph Unger, der das Warn-Desaster zu verantworten hat, muss seinen Posten vorzeitig räumen. Ihm soll der CDU-Bundestagsabgeordnete Armin Schuster nachfolgen. Innenminister Horst Seehofer kündigte grundlegende Reformen beim BBK an.

Die erkannten Mängel sollen nun zügig beseitigt werden. Ein Systemtest soll sicherstellen, dass das erfolgreich war. Und offenbar will das BBK damit nicht bis zum nächsten turnusmäßigen Warntag im September 2021 warten.

Wenn nächstes Mal alles funktioniert, kann auch der Twitterer @OomenBerlin durchschlafen, der am 11. September um 3:53 Uhr morgens darüber klagte, dass ihn eine 17 Stunden verspätete Pushnachricht vom Warntag gerade aus dem Schlaf gerissen habe.

Dieser Artikel stammt aus c't 22/2020.

(uma)