Warten 2.0

Wir warten nicht mehr nur auf den Bus, sondern nunmehr auch auf den Impfstoff – oder auf so etwas wie Renormalisierung. Hilft uns die Technik dabei?

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Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Peter Glaser

Wie viele andere Begleiterscheinungen des nichtlinearen Lebensfortlaufs wird auch das Warten nach und nach digitalisiert. Warten reicht vom launigen Herumsitzen im Kaffeehaus über zweckbedingten Verweilzwang – Friseur, Behörde – bis hin zur Haft; der für diese Art von Langzeitwartenden zuständige Beruf heißt treffend Wärter. Wir warten unerfreut auf den Bus, aber nicht überall auf der Welt wird das Warten ausschließlich negativ wahrgenommen.

In manchen Gesellschaften sonnt man sich geradezu in Wartezeiten. So versammeln sich in Uganda auf dem Dorf die Nachbarn manchmal eine Stunde früher an der Haltestelle, nur um gemeinschaftlich zu warten. Die Wartezeit ist die gemeinsame Sprache, in der sie Zeit füreinander aufbringen. Die Bielefelder Digitalcourage-Mitbegründerin Rena Tangens erzählt vom bemerkenswerten Scheitern eines Entwicklungshilfeprojekts in Afrika. Die Frauen des Dorfes waren täglich zwei Stunden zu Fuß unterwegs, um Wasser aus einer Wasserstelle zu holen. Europäische Entwicklungshelfer sahen also ihre vordringlichste Aufgabe darin, den Frauen die schwere Arbeit zu erleichtern und einen Brunnen direkt im Dorf zu bohren. Die Frauen waren jedoch alles andere als glücklich mit der Neuerung. Ihnen fehlten nun die zwei Stunden Freiraum, der gemeinsame Gang zum Wasser mit den anderen Frauen und die dabei geführten Gespräche.

Technische Lösungen für soziale Probleme bringen die Beteiligten nicht per se voran. Der durch die Covid-Pandemie erzwungene Digitalisierungsschub belegt nunmehr im globalen Maßstab, dass beispielsweise die Telekommunikation nicht nur Vorteile wie die Arbeit zu Hause mit sich bringt, sondern auch Nachteile wie die Arbeit zu Hause. Wernn die Forscher in den Labors der großen Pharmafirmen nicht bald einen Impfstoff gegen das Virus entwickelt haben, werden es verzweifelte Eltern tun, die sich zusammen mit ihren Kindern im balkonlosen Home Office zu einer explosiven Mischung verdichten.

Im Wartezimmer eines Frankfurter Arztes schlägt die Pendeluhr "Neu-Zeit" der Designer da Costa & Wolf. An ihrem unterem Ende blinkt scheinbar unentwirrbar eine Zeile roter Leuchtdioden. Erst wenn der Blick dem Pendel nicht mehr folgt, erscheint die Zeitangabe – als Nachbild des Lichtmusters in die Luft gestreift. Eine, wie es heißt, "geduldfördernde" Uhr. Geduld wäre die dem Warten moralisch angemessene Haltung. Leider ist der Zeitgenosse aber, wie man nicht nur an der meist ultrakurzen Verweildauer auf Websites oder den ständig beschleunigten Lieferzeiten von Online-Händlern ablesen kann, andersrum konditioniert. Und so wie Computer immer schneller werden, wird der moderne Mensch immer ungeduldiger. Hat man in den Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts noch brav zwei Minuten gewartet, bis ein Programm von Audiocassette in den Rechner geladen war, trommelt man heute schon mit den Fingern, wenn ein Computer überhaupt noch Zeit für einen Vorgang verbraucht und also immer noch nicht seine Vollendung als Sofortmaschine erreicht hat.

Wenn schon vom Warten die Rede ist, darf das Sitzbänkchen rund um den Prozessorturm der Cray-1 nicht fehlen. Die Bauteile dieser allerersten Supercomputer waren von Hand verdrahtet, um jeden Millimeter Signallaufzeit zu vermeiden. Paradoxerweise lassen gerade Supercomputer oft lange auf sich warten, etwa um Urknallsimulationen oder Proteinfaltungen durchzurechnen. Dem kommt das Wartebänkchen rund um den Rechner entgegen.

In der Utopie einer Welt, in der nicht mehr gewartet werden muß, vergeht nicht mehr einfach nur Zeit, sondern nur noch Echtzeit. Ein Problem dabei ist die biologisch vorgegebene menschliche Lebensgeschwindigkeit, die sich zwar durch den Einsatz von Motivation, Training oder Doping forcieren läßt, der aber die sozusagen alles entscheidende Möglichkeit genommen wäre, sich immer wieder zwischen Alternativen entscheiden zu können, wenn alles verzögerungsfrei und wie mit dem Zauberstab angetippt geschehen müßte. Ich habe eine andere Vision. Zeit, die man im – ohnehin nur vermeintlichen – Leerlauf des Wartens verbringt, müßte sich einfrieren und später, etwa wenn Streß sich ankündigt, wie Eiswürfel wieder auftauen lassen.

(bsc)