Anwaltshemmende Software
Wenn die wichtigste Prüfung im Leben online stattfindet, können programmierte Vorurteile und technische Pannen fatal sein.
- Peter Glaser
Anfang Oktober stand für Jura-Absolventen aus 20 US-Bundesstaaten die Prüfung zur Zulassung als Anwalt an. Sie sollte ursprünglich bereits im Juli stattfinden, war dann aber zweimal verschoben und schließlich auf Anfang Oktober festgesetzt worden. Das Corona-Virus hat auch hier Folgen. Was seit einigen Jahren eine Option gewesen war, wurde nun zur Pflicht: Die zweitägige Prüfung fand ausschließlich online statt.
Software der Firma ExamSoft ermöglicht es den Prüflingen, ihre eigenen Laptops zu benutzen, indem sie alle anderen Funktionen des Computers – wie etwa die Möglichkeit, auf Notizen zuzugreifen oder das Internet zu nutzen – ausschaltet. Am Ende jeder der drei Prüfungsmodule müssen die Teilnehmer ihre Ausführungen ohne weitere Änderungsmöglichkeit auf einen Server hochladen.
Einige Bundesstaaten hatten an dem Juli-Termin festgehalten. Am 28. Juli kam es in Michigan etwa eine Stunde nach Beginn des Online-Examens bei etlichen Teilnehmern zu Anmeldeproblemen. Später am Tag erklärte ExamSoft auf Twitter, dass die Probleme auf einen DDOS-Angriff zurückzuführen seien und dass dies das erste Mal sei, dass ExamSoft einen solchen Angriff auf Netzwerkebene erlebt habe. Allerdings war bereits 2014 ein solches Phänomen – Serverüberlastung – durch reguläre Nutzung ausgelöst worden.
Als die damaligen Online-Teilnehmer nach dem ersten Prüfungstag ihre Arbeiten hochladen wollten, stellte sich heraus, dass ExamSoft nicht auf das Volumen der Prüfungsausführungen vorbereitet war. Viele erhielten ständig Fehlermeldungen ("Ihre Antwortdateien wurden nicht hochgeladen"), infolgedessen konnte die Software auch nicht bestätigen, dass die Prüfungsarbeiten ordnungsgemäß und rechtzeitig eingereicht worden waren. Die Prüfung war somit nicht bestanden. Anstatt sich auszuruhen, versuchten viele Anwaltskandidaten damals die ganze Nacht verzweifelt, den Kundendienst von ExamSoft zu kontaktieren, bei dem Dauerbesetzt war. Eine Sammelklage gegen den Software-Hersteller führte im Mai 2015 zu einem Vergleich, bei dem ExamSoft 2,1 Millionen Dollar zahlte.
Die aktuell eingesetzte Version der ExamSoft-Anwendung fragt zur Identifikation auch biometrische Daten ab. Die dafür eingesetzte Gesichtserkennung hat Probleme damit, die Gesichter farbiger Menschen, insbesonders von Frauen mit dunkler Hautfarbe zu erkennen. Untersuchungen sowohl regierungsbeauftragter als auch unabhängiger Wissenschaftler haben dieses Manko von Gesichtserkennungssoftware wiederholt bewiesen. Die European Conference on Computer Vision hat vor kurzem ebenfalls darauf hingewiesen, dass Algorithmen bei schwarzen Frauen schlechter funktionieren wie bei anderen Menschen.
Um sicherzugehen, dass ihre Hautfarbe nicht dazu führt, dass die Remote-Software Alarm schlägt, haben Jurastudenten mit dunkler Hautfarbe eine eigene Taktik entwickelt: Sie lassen während des gesamten zweitägigen Procederes eine Lampe direkt auf ihr Gesicht scheinen. Aus der Prüfungssituation wird so eine Verhörsituation. "Wenn jemand sich stundenlang Licht direkt ins Gesicht scheinen lassen muss, wird er Kopfschmerzen bekommen, und auch wenn er lichtempfindlich ist oder anfällig für Migräne, wird das seine Leistung beeinträchtigen", sagt eine dunkelhäutige Prüfungsteilnehmerin. "Das macht mir wirklich Sorgen." Nachdem ExamSoft für die Durchführung der Prüfung in Kalifornien ausgewählt worden war, wandte sich Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union in einem Brief an den Obersten Gerichtshof Kaliforniens und beklagte, dass Online-Prüdungssoftware mit Gesichtserkennung das Potenzial habe, die historische Ungerechtigkeit in der Anwaltschaft noch zu verschärfen.
Einige Software-Firmen, die sich mit der Fernüberwachung von Prüfungen befassen, waren bei der Ausschreibung nicht an einer Teilnahme interessiert. So sagte etwa der Mitbegründer von ExamSoft und derzeitige CEO von Extegrity, Greg Sarab, dass seine Firma eine von drei sei, die sich aus der Ausschreibung zurückgezogen habe. Er hält es für riskant, die Technologie zum jetzigen Zeitpunkt einzusetzen, wie die inkonsistente Leistung bei simulierten und Live-Tests beweist. Sarab äußerte sich auch besorgt über die Risiken im Zusammenhang mit zuverlässigen Internetverbindungen und dem Zeitmangel für Unternehmen wie ExamSoft, ihre Technologie zu testen.
Um die beispiellosen logistischen Herausforderungen zu bewältigen und die Anwaltschaft während der Pandemie handlungsfähig zu halten, beginnen die staatlichen Anwaltskammern in den USA darüber nachzudenken, ob man nicht ganz auf die Zulassungsprüfungen für Anwälte verzichten kann.
(bsc)