COVID-Tests: Google-Schwester Verily ignoriert Lebensrealität Armer

Das Silicon Valley ist Lichtjahre von der Wirklichkeit sozial Benachteiligter entfernt. Die Alphabet-Tochter Verily zeigt, wie man COVID-Tests nicht aufsetzt.

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Warnschild an Strand warnt for Köpflern ins das seichte Wasser

So nicht.

(Bild: Daniel AJ Sokolov)

Lesezeit: 6 Min.
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COVID-19-Tests nur mit Gmail-Konto und Smartphone, und nur, wenn man Gesundheitsdaten preisgibt und deren Weitergabe an unbekannte Dritte abnickt – so hat die Alphabet-Tochter Verily staatlich finanzierte Coronavirus-Tests in Kalifornien aufgesetzt. Dabei sollte das 55 Millionen US-Dollar teure Projekt gerade Armen und anderweitig Unterversorgten zu COVID-Tests verhelfen. Weil dieses Ziel so nicht erreicht wird, stellen zwei Countys die Zusammenarbeit mit Verily ein.

San Francisco und Alameda haben die Zusammenarbeit mit Verily eingestellt, berichtet das Kaiser Health Network (KHN). Verily betreibt in etwa der Hälfte der 58 Countys Kaliforniens stationäre und mobile Coronavirus-Teststationen sowie eine Online-Plattform für die Terminvereinbarung. Partnerlabore übernehmen die Auswertung. Das System soll "sicherstellen, dass wir wirklich Kalifornien testen, breit definiert – nicht nur Teile Kaliforniens und jene, die irgendwie das Privileg haben, bevorzugt zu werden", wie Kaliforniens Gouverneur Gavon Newsom im April bekräftigt hat.

Verily verlangt, dass jeder Testwillige ein Gmail-Konto verwendet. Verily begründet das mit der "Sicherheit". Außerdem muss jeder Teilnehmer chronische Krankheiten offenlegen, und dann zustimmen, dass die verpflichtend preisgegebenen Gesundheitsdaten auch an ungenannte Vertragspartner, Regierungsstellen und "andere Einrichtungen, die das Testprogramm unterstützen" weitergegeben werden dürfen.

Wer das verweigert, bekommt über Verilys Plattform keinen Termin. Das schreckt insbesondere Angehörige der sowieso unterversorgten Zielgruppen an. Sie bringen Behörden und Konzernen wenig Vertrauen entgegen. Zu oft wurden sie von diesen schlecht behandelt, ignoriert, oder gar ausgeraubt.

Verily verteilte auch Schutzausrüstung wie Handschuhe und Masken, die für Arme unerschwinglich sind. Aber auch das gab es nur für jene, die ihre Daten hergegeben hatten. Dabei liegen die COVID-Raten gerade bei sozial Benachteiligten um ein Vielfaches über dem Durchschnitt.

"Für uns ist das eine alte Geschichte", sagte Dr. Noha Aboelata, Chefin einer Klinik in Oakland, zu KHN, "Firmen, die sich nicht wirklich um unsere Gemeinde kümmern, stürmen mit Geschenken herein, aber was sie wieder mitnehmen, ist viel wertvoller." Die Gesundheitsdaten nämlich. Aboelata fand Verilys Zugang so unwürdig, dass sie die Zusammenarbeit mit Verily nach nur sechs Tagen wieder eingestellt hat.

Dazu trug auch bei, dass Verily die Teststation als Drive-In bewarb, obwohl sie, im Einklang mit den Bedürfnissen der lokalen Bevölkerung, für Fußgänger eingerichtet war. Die falsche Beschreibung lockte Wohlhabendere aus anderen Gegenden an, die dann wütend waren, weil sie ihr Vehikel parken und ein bisschen zu Fuß gehen mussten – in einem Armenviertel "wo sie wahrscheinlich noch nie waren und offenbar nicht sein wollten", berichtete die Ärztin, "Sie haben eine ziemliche Szene gemacht." So arg und geifernd, dass mehrere rausgeschmissen werden mussten.

Überraschend unflexibel ist Verilys Terminvergabe. Frühestens am nächsten Tag kann man sich testen lassen. Das ist besonders frustrierend für Personen, die mangels eigenen Internetzugangs zur Teststelle kommen, um sich dort online zu registrieren. Selbst wenn sich die Krankenschwestern gerade langweilen, müssen die Patienten an einem anderen Tag zu einer bestimmten Zeit wiederkommen. Das ist in der Zielgruppe eine hohe Hürde.

Im Stadtzentrum San Franciscos war zudem ein Smartphone Pflicht für die Terminvereinbarung vor Ort. Wer keines hatte, wurde weggeschickt – und fiel damit auch um den versprochenen Einkaufsgutschein über zehn Dollar um. Dass Leute mit Smartphone den Termin nicht vor Ort vereinbaren müssten sondern dafür ihr Smartphone nutzen könnte, spielte keine Rolle.

Viele sozial Benachteiligte haben durchaus ein Gmail-Konto und würden es auch verwenden. Doch ein Gutteil hat das Passwort vergessen, weil Menschen ohne Internet selten das Passwort brauchen. Nun setzt Google für die Passwortrücksetzung voraus, dass der Kontoinhaber entweder das Passwort eines anderen, dereinst hinterlegten E-Mail-Kontos kennt, oder dass er noch die selbe Telefonnummer wie bei Einrichtung des Gmail-Kontos hat. Eine weltfremde Forderung für die Zielgruppe.

Zu allem Überdruss verlangt Verily, dass Testwillige alle Angaben selbst machen. Hilfe Dritter ist unzulässig. Gleichzeitig stellt Verily die Anmeldung ausschließlich auf Englisch und Spanisch zur Verfügung. Verily geht also davon aus, dass alle Kalifornier ausreichend Lesen und Schreiben können, um Fragen nach Krankheiten schriftlich beantworten und Datenschutzbestimmungen verstehen und akzeptieren zu können.

Dabei ist bekannt, dass die Hälfte aller US-Amerikaner nicht in der Lage ist, für die achte Schulstufe vorgesehene Bücher zu lesen. Und unter allen US-Staaten hat Kalifornien mit 23,1 Prozent die höchste Analphabetenrate, wobei der Anteil unter sozial Benachteiligten noch höher ist. Auch das erklärt, warum eine Terminvergabe für einen anderen Tag eine Hürde darstellt: Der Testwillige muss Datum und Uhrzeit korrekt ablesen und sich einprägen.

Von Kundenorientierung ist auch nach erfolgtem Test wenig zu sehen. Nur bei positivem Testergebnis versucht ein Callcenter, den Virusträger anzurufen. Wer nicht online Nachschau halten kann, bleibt im Unklaren, ob er COVID-negativ ist, das Testergebnis noch nicht vorliegt, oder ob ihn das Callcenter bloß nicht erreicht hat.

In Teilen Kaliforniens ist Verilys Plattform laut KHN der einzige Weg, zu einem COVID-Test zu kommen. In mehreren anderen US-Staaten arbeitet Verily mit der Apothekenkette Rite Aid zusammen. Für die Abwicklung des Rite-Aid-Testprogramms zahlt das US-Gesundheitsministerium 122,6 Millionen US-Dollar.

(ds)