Früchtchen des Zorns
Der Gegner der Vernunft ist nicht die Unvernunft. Er tut nur so, aus taktischen Gründen.
(Bild: Photo by the blowup on Unsplash)
- Peter Glaser
Es ist eine massenhafte, auch individuell auftretende, gefährliche Infantilität zu beobachten, die sich der Vernunft verweigert und sich mit "Nein, meine Maske trag ich nicht!" längst nicht mehr zufrieden gibt. Gefährlich soll heißen: "Ein 38 Jahre alter Mann hat gestern fünf Bahnmitarbeiter in einem Regionalexpress angegriffen und zum Teil schwer verletzt. Nach ersten Erkenntnissen besaß der Fahrgast, der von Wuppertal nach Hagen unterwegs war, zwar eine Fahrkarte, wollte aber den dazugehörigen Ausweis nicht zeigen." (Meldung von Ende November 2020)
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Fünfjährige versuchen gern, durch Herumtrotzen die Aufmerksamkeit Erwachsener auf sich zu lenken und sich durch die Abgrenzung zugleich selbst ein kleines Stück in Richtung Erwachsenwerden zu navigieren. Auf den sogenannten Corona-Demos ist derzeit zu sehen, was passiert, wenn Menschen zwar aussehen wie Erwachsene, sich in Wahrheit aber hinter einer Erwachsenenkulisse verstecken, stur, empathieunfähig und manipulierbar wie Kinder, nur dass sie jetzt die Aufmerksamkeit von Mutti Merkel und Papa Staat beanspruchen. Was tun mit Kindern, für die bereits das Erwachsenenstrafrecht gilt?
Bei Bananen kann man mit Ethylen eine kurzfristige Nachreifung erreichen, bei den selbsternannten "Querdenkern" wird das nicht fruchten. Sie verweigern nicht das Maskentragen oder das Ausgetauschtwerden durch Bill Gates an sich, sondern ganz allgemein das Erwachsenwerden und Erwachsensein. Als einzig Herangewachsenes ist an ihnen eine Art aggressiver Hilflosigkeit zu erkennen, die man bei vielen der Schwerdenker aber nicht mit Dummheit verwechseln sollte.
Genau wie die amerikanische Entfreiheitlichungsstatue Donald T. wissen auch sie, dass sie lügen, wenn sie Fiktion als Realität zu verkaufen versuchen. Sie wissen auch genau, dass sie belogen werden, wenn ihnen jemand erzählt, dass die Cheopspyramide in Wahrheit eine Landemarkierung für Captain Ashtars rosarote Ufoflotte ist oder man von Schutzmasken Krebs bekommt. Es geht ihnen nicht um Wahrheit, sondern darum, zu zeigen, dass sie in der Lage sind, jeden beliebigen oder auch gefährlichen Unsinn zu verbreiten vulgo Einfluß nach Belieben auszuüben.
Wie bei jeder fundamentalistischen Gesinnung, so erkennt man auch Verschwörungstheoretiker untrüglich an ihrer pathetischen Humorlosigkeit. Sie entspricht dem kindlichen Unvermögen, Ironie zu verstehen, die, wie auch Humor insgesamt, ein Beweis dafür ist, dass ein Mensch in der Lage ist, mit Mehrdeutigkeiten umzugehen. Sie entspricht dem Unvermögen, souverän zu sein.
In einer Wissenschaftsparodie auf esoterische Zahlenmystik vermaß der französische Archäologe Jean-Pierre Adam einen Zeitungskiosk in der Nähe seiner Wohnung und derivierte aus den dort gefundenen Zahlen und Zahlverhältnissen die Entfernung der Erde zur Sonne, den griechischen Mondzyklus, das Datum der Schlacht von Tours und Poitiers und die Summenformel von Naphthalin. Ähnlich verschaukelte der niederländische Astronom und Skeptiker Cornelis de Jager die Arbeitsweise von Vertretern sogenannten Geheimwissens, indem er Parameter seines Fahrrads vermaß und mit einigen mathematischen Umrechnungen mühelos auf mehrere physikalische Konstanten und astronomische Werte kam. Das Ergebnis veröffentlichte er 1990 als "Velosofie".
Verschwörungstheoretiker mißbrauchen die Sprache. Sie mißbrauchen den Beitrag, den die Wissenschaft zu unserer Zivilisation geleistet hat, eine transparente Art des Diskutierens, Argumentierens und Beweisens. Sie schlagen keine alternative Theorie vor, sondern sie tun nur so, spielen aber in Wahrheit ein Machtspielchen, indem sie ein ernstes Gesicht machen, populistisch gewürzten Unsinn behaupten und sich durch auch noch so fundierte Beweise oder Gegenargumente nicht davon abbringen lassen. So wie manche Leute hohen Blutdruck mit Führungsqualität verwechseln, halten Verschwörungstheoretiker und ihre Fans diese Art von Sturheit für Wahrheitsbeweise.
Seit jeher leidet die Aufklärung darunter, dass die Verrückten die besseren Geschichten haben – eben verrücke. Als Schriftsteller sollte ich erfreut sein über die aktuelle Begeisterung an Fiktionen. Die Leerdenker aber entwürdigen das Geschichtenerzählen ebenso wie die Stimme der Vernunft. Eine Fiktion, die zur bloßen Realität abkommandiert wird, schrumpft zu nichts als einer Unwahrheit. Der Ägyptologe Erik Hornung rät im übrigen auch dem wissenschaftlichen Geist zu Bescheidenheit. Ähnlich wie bei der aus der Astrologie hervorgegangenen Astronomie oder der aus der Alchemie entstandenen Chemie habe die im 19. Jahrhundert neu entstehende Disziplin der Ägyptologie von ihren zweifelhaften Wurzeln nichts mehr wissen wollen und reagiere bis heute empfindlich auf alles, was an die tastenden, spekulativen Ursprünge erinnert.
(bsc)