Theorie und Schönheit
Sind harte Daten der einzige Weg zur wissenschaftlichen Wahrheit?
(Bild: Photo by Chris Liverani on Unsplash)
- Peter Glaser
Die moderne Wissenschaft verfügt über brilliante Beobachtungs- und Messmethoden, effiziente Kommunikation und gutsituierte Forschungseinrichtungen. Und sie fußt auf einer überlegenen (wenn auch nicht immer fehlerlos umgesetzten) Ideologie, die sich im Bemühen um Objektivität, Offenheit für Kritik und reglementierte Methoden des Entdeckens manifestiert, etwa dem randomisierten, kontrollierten Experimentieren. Eine Innovation aber hat die moderne Wissenschaft wirklich wissenschaftlich gemacht: eine strategische Irrationalität.
"Es geht nur darum, dass die Theorie die Ergebnisse von Messungen vorhersagen soll", sagte Stephen Hawking. Dass nur empirische Beweise in der wissenschaftlichen Argumentation Gewicht haben, ist die große Stärke der Wissenschaft. Aber in dieser Exklusivität liegt auch ein gewisser Dogmatismus. Ansätze wie etwa die Eleganz einer Theorie, die von vielen Wissenschaftlern ebenfalls als relevant für die Bewertung einer Hypothese angesehen wird, werden ins private Denken ausquartiert. In Fachzeitschriften, der eigentlichen wissenschaftlichen Öffentlichkeit, kommen sie nicht vor.
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1964 entwickelten die Physiker Murray Gell-Mann und George Zweig die Quark-Theorie, wonach Protonen keine fundamentalen Teilchen sind, sondern aus drei kleineren hochenergetischen Teilchen zusammengesetzt – den Quarks. Beschleunigerexperimente bestätigten ihre Vorhersagen und bescherten der Physik damit die ersten empirischen Belege für die Existenz von Quarks (und Gell-Man und Zweig 1990 den Nobelpreis). Beide Wissenschaftler waren von dem Wunsch motiviert, in den Teilchenscharen, die in den 1940er und 50er Jahren entdeckt worden waren, eine zugrundeliegende Ordnung zu finden, eine verborgene Harmonie. Indem sie zeigten, dass der ganze Teilchenzoo aus nur drei Grundeinheiten hervorgeht – up-, down- und strange-Quarks –, bestätigten sie auch die weitverbreitete Empfindung, dass die Einfachheit und Schönheit einer Theorie ein Zeichen dafür ist, dass sie stimmt.
Wie Gell-Mann, so waren viele Physiker davor und danach der Ansicht, dass Ästhetik, Schlichtheit und Eleganz relevante Kriterien für die Auswahl der richtigen Hypothese sein können. In seinem Buch "The Elegant Universe" schreibt der Physiker Brian Greene, dass diese Art von Schönheit signifikanten Einfluß auf wissenschaftliches Denken habe. Wissenschaftler treffen Entscheidungen über die Richtung, in die eine Theorie erforscht werden soll, "auf einem ästhetischen Sinn basierend – einem Sinn, der Theorien Eleganz und Schönheit der Struktur verleiht, die der Welt, die wir erleben, ebenbürtig ist".
Die Bedeutung des ästhetischen Denkens in der Wissenschaft sollte nicht unterschätzt werden, wobei Schönheit nicht genug ist, um eine Theorie zu stützen. Im strengen wissenschaftlichen Diskurs spielt Ästhetik aber nicht einfach nur eine untergeordnete Rolle, sie ist praktisch verboten, obwohl gelegentliche Bemerkungen über die Eleganz einer Erklärung auch dort durchaus vorstellbar wären. Aber niemand scheint ästhetischen Überlegungen einen Argumentationswert zuzubilligen. Zwar wird Schönheit einerseits als Leuchtturm angesehen – viele Wissenschaftler finden es im Grunde inakzeptabel, dass eine Theorie, der es an Schönheit mangelt, auch noch richtig sein soll –, andererseits wird dieselbe Eigenschaft aber aus der strengen Debatte völlig ausgeklammert. Es ist paradox, genauer gesagt irrational: Schönheit wird in hohen Worten hervorgehoben, zugleich soll ihr aber keine Aufmerksamkeit zukommen.
Wenn man bei der Entscheidung über eine wichtige Angelegenheit sämtliche relevanten Erwägungen in Betracht ziehen sollte, sprechen Philosophen vom Prinzip der totalen Evidenz. Wir sind rational verpflichtet, jeden wichtigen Gedankengang zumindest kurz zu prüfen. Das Dogma, dass "nur Beweise zählen", verstößt gegen dieses Prinzip. Es gibt keine wirklichen Hindernisse für die Akzeptanz von Schönheit als Maßstab für die Plausibilität einer Theorie. Jeder Forscher, der sich die Zeit nimmt, die Funktionsweise einer Theorie im Detail zu verstehen, gleicht sie unwillkürlich mit seinem ästhetischen Empfinden ab. Das heißt nicht, dass ästhetisches Denken den empirischen Beweisen vorzuziehen wäre. Aber man kann beides haben. Wie der Wissenschaftsphilosoph Thomas Kuhn in "The Structure of Scientific Revolutions" formuliert, zwingen die ihnen eigenen Institutionen und Regeln "Wissenschaftler dazu, einen Teil der Natur in einer Detailliertheit und Tiefe zu untersuchen, die sonst unvorstellbar wäre".
Es ist diese sonst unerreichbare Detailtiefe, die der modernen Wissenschaft ihre gewaltige Erkenntniskapazität verleiht. Jahrtausendelang hatten Philosophen und Forscher, die tief über die Natur nachdachten, bereits empirische Beweise geschätzt, aber daneben noch philosophische, theologische oder ästhetische Gedanken verfolgt. Sie beobachteten, wie die Welt funktioniert, aber sie hörten zu früh auf zu messen und begannen zu früh zu denken. Sie verpassten die allerwinzigsten Details, die uns heute so viel sagen. Erst als der intellektuelle Horizont – mutwillig und strategisch genial – eingeschränkt wurde auf die reine Empirie, konnte die moderne Wissenschaft geboren werden.
(bsc)