Die Weitreiche der Reichweite (II.): Helmut auf der Kühlmatte

Kleinräumiger zu reisen dauert länger als im großen Maßstab. Das kann sich im Detail als vorteilhaft erweisen.

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Bewohntes Gebiet, das der Autor von seiner Wohnung aus innerhalb von 30 Minuten zu Fuß erreichen kann.

(Bild: targomo.com)

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Inhaltsverzeichnis

Da mein Zug gestrandet war und das iPhone nichts mehr zu sagen hatte, hörte ich Helmut dem Busfahrer zu. Die Klimaanlage reiche gerade nicht aus, sagte er, daher habe er sich einen Coolkeeper besorgt, eine spezielle Sitzmatte, damit er nicht die ganze Schicht über im eigenen Saft schmoren müsse. Zum Glück fahre er einen dieselbetriebenen Bus und keinen elektrischen, da müsse man ja mit der Energie haushalten und könne nicht einfach die Klimaanlage hochdrehen, auch nicht in solcher Hitze wie jetzt gerade. Dann könne es passieren, dass der Bus einfach auf der Strecke stehenbliebe. "Da habe ich dann keinen Ersatzkanister", insistierte er.

Die Weitreiche der Reichweite

(Bild: Outflow_Designs / Shutterstock.com)

Eine Landpartie mit Abschweifungen, kleinräumiges Reisen, der Mittelpunkt der Welt und spontaner Findungsgeist: Über komplexe Systeme, kleine Ursachen mit großen Wirkungen und komplizierte Fragen, die meist keine einfachen Antworten kennen. Ein Vierteiler (nicht nur) zu Weihnachten auf heise online.

Während ich durch Kartoffeln gondelte, konnte ich mir als gebürtiger Stadtmensch nicht vorstellen, dort zu leben; wie immer, wenn ich übers Land fuhr, schon in Kindheitstagen, wenn ich mit meinen Eltern die Verwandtschaft besuchte, knapp eine Autostunde nordwestlich von Nienburg. Wenigstens für manche Erledigungen wäre ich aufs Auto angewiesen, ich könnte wohl nicht einfach so mit öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren oder gar radeln. Das mir als passionierter Fußgänger, der in der Stadt fürs Schnelle aufs Fahrrad oder die Straßenbahn ausweichen kann und größere Transporte mit dem Sharing-Auto oder dem eines Freundes erledigt. Der Fußdruck wäre wohl noch stärker, wohnte ich in Schwabing, wo laut einer BMW-Studie von 1997 alle Autofahrer zusammengenommen täglich 80.000 Kilometer im Parksuchverkehr verbracht haben sollen.

Normalerweise kann ich mich zum Feierabend nicht mehr so gut daran erinnern, welche Themen ich am Arbeitstag bearbeitet hatte. Sie sind dann nicht mehr direkt abfragbar, sie scheinen in eine Art Ahnungsgedächtnis verschoben zu werden. Wenn ich auf ein Thema stoße, erahne ich, dass ich es vor nicht langer oder längerer Zeit schon einmal auf dem Tisch hatte, und kann entsprechend die Archivsuche eingrenzen. An diesem Dienstag aber hatte ich noch eine dpa-Meldung im Sinn: "Autoverkehr verursacht Folgekosten von 141 Milliarden Euro". Im Jahr 2017, hatte die Allianz pro Schiene ausgerechnet. Die Kosten würden nicht von den Verursachern allein getragen, sondern von der Allgemeinheit. Aus der FDP kam daran Kritik, es sei tendenziös, nur mit den Folgekosten zu argumentieren und den Nutzen der Mobilität auszublenden. Damit meinen sie als Liberale in der Tradition Adam Smiths natürlich die wirtschaftlichen Nutzen zum Wohle aller.

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Zur Mobilität gehört die Immobilität, Autos stehen die allermeiste Zeit herum. Auf dem Land gibt es dafür Parkplätze ohne Ende, dort wären eher die Voraussetzungen gegeben, das Elektroauto vor der eigenen Haustür zu laden, wie es zurzeit noch die meisten Besitzer solcher Wagen angesichts der dünnen Infrastruktur und langer Ladezeiten machen. In der Stadt hingegen ist der Anteil an Mietwohnraum hoch, es gibt so einige Vielparteienhäuser, so wie das, in dem ich wohne, und auch entsprechend wenigen Parkraum. Viele Mietshäuser haben gar keine Parkplätze, die sich als Ladestation eignen. Immerhin wollen die Gesetzgeber den privaten Einbau von Ladestationen fördern, indem sie die Rechte der Mieter stärken.

"Reservekanister" war mein Stichwort, an die nunmehr leere Powerbank zu denken, an den System-, ja Paradigmenwechsel, der mit dem Wechsel vom Xenium zum iPhone einherging. Den Ladestand und damit den Optionsnutzen immer im Blick, und falls dieser unter eine gewisse Schwelle fiel, den Blick immerzu schweifend zur nächstgelegenen Steckdose. Wenn eine erreichbar schien, "darf ich mal" fragen und gleich das Revier stöpselnd markieren. Mitte der 00er Jahre, als sich in den von mir benutzten Zügen und U-Bahnen Menschen mit Touchscreens mehrten, wurde es in manchen Kneipen üblich – jedenfalls in Stuttgart hatte ich das öfter erlebt, weniger in Bremen –, dass indem Menschen ihre Smartphones vor sich auf den Tisch legten. In gemütlicher Runde wurde es so zwischen den Bier- und Weingläsern hightech-statussymbolisch eng.

An diesem letzten Dienstag im August 2019 war es gerade eine Woche her, dass Bundeskanzlerin Angela Merkel ihre Erwartung, auf Deutschlands Straßen mögen eine Million Elektroautos fahren, von 2020 auf 2022 verschoben hatte. Von dem Ziel war Deutschland noch viele tausende elektrische Vehikel entfernt. Ein Elektroauto ist möglicherweise ein Statussymbol, aber eines, das sich nicht mal eben einstöpseln oder auf den Tisch legen lässt.

Die German Angst gegenüber der Elektromobilität scheint aber nun doch zu weichen, gut angefeuert durch die vom Staat und den Herstellern angebotene Kaufprämie. Vom Januar bis Oktober 2020 wurden 121.500 rein batterieelektrisch angetriebene Autos neu zugelassen, 130 Prozent mehr als im Vorjahr. Das Förderprogramm Elektromobilität der Bundesregierung gibt es seit Juli 2016 und wurde zuerst sehr zögerlich angenommen. Vier Jahre später ist sie in vieler Munde und des öfteren schleicht ein leises Auto vor meinem Wohnzimmerfenster vorbei. Der Lockruf des Geldes gewichtet sich auf der Waage gegenüber der Reichweitenangst, dieser speziellen Ausprägung der German Angst.

"Deshalb würde ich mir auch nicht privat ein Elektroauto zulegen. Wie soll ich damit in den Urlaub fahren?", unterbrach der Busfahrer meine Gedanken aus der Zukunft. "Bitte?", zuckte ich auf. "Ich fahre mit meiner Frau jedes Jahr nach Spanien", sagte Helmut, "unterwegs finde ich überall Tankstellen. Aber wie sieht das mit Ladestationen aus? Außerdem bin ich nach zehn Minuten mit dem Tanken durch. Wissen Sie, wie lange es dauert, ein Elektroauto vollzuladen?" Ich dachte an eine Meldung, die ich zwei Jahre zuvor verfasst hatte: Drei Männer waren mit ihrem Tesla vom Nordkap nach Tarifa gefahren und hatten dafür 86 Stunden gebraucht. Allein fürs Laden gingen dabei 10 Stunden drauf. In der gewöhnlichen Realität fahren 70 Prozent der Autofahrer in Deutschland täglich maximal 50 Kilometer, 17 Prozent zwischen 50 und 100 km, hatte Eon durch eine Umfrage herausfinden lassen. Gleichzeitig erwarteten 20 Prozent von einem E-Auto mit einer Vollladung zwischen 450 und 500 km Reichweite, 21 Prozent mehr als 500 km.

Isochronen-Karte von Francis Galton.

Der britische Naturforscher Francis Galton hatte 1881 eine Isochronen-Karte verfertigt. Er färbte auf einer Weltkarte Gebiete ein, die von einem bestimmten Punkt aus – nämlich London – in einer bestimmten Zeitspanne erreichbar waren. Innerhalb von zehn Tagen bis zum Ural, 40 Tage nach Australien oder auch Zentralsüdamerika; günstigste Reisebedingungen und Kosten unterstellt. Erste Elektroautos gabe es zu der Zeit zwar schon, ob Galton sie in seine Betrachtungen einbezog, ist mir aber nicht bekannt. Vermutlich nicht, denn für die Reichweite kamen seinerzeit eher dampfbetriebene Fahrzeuge in Betracht wie Schiffe und die Eisenbahn.

Ersten Bahnreisenden 50 Jahre vor der ersten Isochronen-Karte Galtons soll es bei einer Fahrt mit 30 km/h übel geworden sein, Medizinalräte sollen gar vor einem Delirium furiosum gewarnt haben. Spätestens seit Chucks Yeagers Flug 1947 mit einer Bell X-1 durch die Schallmauer hindurch können wir wissen, dass auch größere Geschwindigkeiten überlebbar sind; Yeager starb erst 73 Jahre nach seiner Pioniertat. Die Wucht, die ein Elektroauto beim sportlichen Anfahren die Insassen in die Sitze drückt, hat den Menschen auch nicht geschadet. Was könnten die Astronauten sagen, die von der Saturn V ins All geschossen wurden?

Heute, da für unsereins die meisten Punkte der Welt innerhalb von wenigen Stunden bis Tage erreichbar sind, haben Isochrononen-Karten für Normalmenschen keine so große Bedeutung wie zum Beispiel der Breitband- oder der Mobilfunkatlas. Jener für Niedersachsen weist heutzutage kaum noch Funklöcher auf. Das war vor 13 Jahren anders, als ich anfing, von Bremen nach Hannover im Zug zu pendeln. Um die Fahrtzeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen, ging ich mit einem UMTS-Stick am Laptop frühmorgens im Bremer Hauptbahnhof online, suchte nach Themen für Meldungen, recherchierte und fuhr in ein Funkloch, in dem ich die Meldung schreiben konnte. Falls ich mit der Meldung fertig war, konnte ich sie kurz vor Verden ins Redaktionssystem stellen oder nicht, falls noch Recherchebedarf war. Dann nutzte ich den Empfang bis kurz hinter Verden, fuhr in nächste Funkloch und hatte dann wieder in der Gegend um Nienburg Internet. Zwischen Nienburg und Hannover folgte das dritte Funkloch.

Mit den Jahren hatte ich mich derart an den Rhythmus gewöhnt, dass ich ihn auch beibehielt, als die ICE endlich via WLAN eine durchgehende Verbindung boten. WLAN gab es zwar schon im ICE, das nachvollzog aber ebenso wie mein UMTS-Stick jedes Funkloch. Es bot lediglich die Gelegenheit, mein Datenvolumen zu schonen, sofern es funktionierte. Manchmal funktionierte das WLAN, aber der dahintersteckende Router war aber nicht mit dem Internet verbunden. Wenn ich die Zugführer darauf hinwies, fragten sie mich entweder, was ich denn wolle, das WLAN sei doch angeschaltet, oder sie meinten, der Router müsse neu gestartet werden, das ginge erst in Hannover, dem Ziel meiner morgendlichen Fahrt.

Nein, Reservierungen werden nicht mehr per Diskette auf die Anzeigen an den Sitzen übertragen, das geschehe schon lange nicht mehr, versichert die Deutsche Bahn. Die Reservierungsdaten lägen auf einem Server der DB und würden im Zug über ein Modem oder Mobiltelefon per Mobilfunk empfangen und dann auf die Anzeigen ausgespielt. Aber auch hier gibt es natürlich Tücken, denn es könne durchaus passieren, dass die Verbindung zum Server erst nach Fahrtbeginn oder auch gar nicht erfolgreich aufgebaut werden kann. Auch könnten Störungen an Servern oder bei Mobilfunkanbietern die Datenübertragung verhindern. Das Ergebnis: "ggf. freigeben."

Ein Ruckeln holte mich erneut aus den Gedanken vom Gestern, Heute und Morgen, der Bus erreichte Hoya und überquerte die Weser. Hier musste ich umsteigen und sprach entgegen dem schriftlich ausgewiesenen Verbot den Fahrer an, wo ich aussteigen müsse, um nach Hassel zu kommen, zumal die Umgebung recht schnell wieder ländlicher geworden war. "Ach, am Bahnhof sind wir schon vorbei. Ich werde aber für Sie umkehren und sie dort absetzen." Sagte er, machte kehrt und setzte mich einen Kilometer später ab.

(anw)