"Psychische Belastungen sind schon jetzt gigantisch"

FDP-Bundestagsabgeordneter Michael Theurer. Bild: Privat, CC BY-SA 4.0.

Kommt heute der Mega-Shockdown mit Ausgangssperre? Der Fraktions-Vize der FDP im Bundestag, Michael Theurer, warnt vor vor dramatischen Auswirkungen

Der Tübinger Diplom-Volkswirt Michael Theurer ist stellvertretender Fraktionsvorsitzender der FDP im Deutschen Bundestag, zudem Vorsitzender der FDP Baden-Württemberg und im Präsidium der Bundes-FDP. Zuvor war er über fünfzehn Jahre Abgeordneter im Landtag Baden-Württembergs und im Europäischen Parlament.

"Bundesregierung sollte den Menschen reinen Wein einschenken"

Im Moment hangelt sich Deutschland von Lockdown zu Lockdown, ein Ende ist nicht in Sicht. Nachdem in den letzten Tagen von Ostern und April als Ende der Maßnahmen die Rede war, sprach Kanzleramtschef Helge Braun (CDU) am Samstag gar von einem Ende der Maßnahmen im Sommer. Was steht uns da noch bevor?

Michael Theurer: Die Zeichen stehen erneut auf Verschärfung, weil die Infektionszahlen nicht schnell genug zurückgehen. Zudem hat die Bundesregierung den Impfstart vermasselt. Mein Wunsch wäre, dass die Maßnahmen stärker auf ihre Wirksamkeit statt auf ihre Symbolkraft ausgerichtet werden.

Müsste es denn jetzt stattdessen nicht um eine Langfrist-Strategie gehen?

Michael Theurer: Ja. Wir brauchen einen Stufenplan, der Transparenz herstellt. Also ein Ampelsystem auf Basis von R-Wert, Inzidenz und lokalen Kapazitäten des Gesundheitssystems. Dass dies nicht schon im Sommer eingeführt wurde, ist ein schweres Versäumnis.

Nun wird selbst ein Mega-Lockdown diskutiert. Das klingt nach totaler Schließung. Zurecht?

Michael Theurer: Das Problem ist, dass unter solchen Überbegriffen immer alles Mögliche verstanden werden kann. Manche Maßnahmen sind sinnvoll, manche nicht. Die Bundesregierung sollte hier den Menschen reinen Wein einschenken, worüber sie diskutieren will – und zwar bevor diese Themen dann irgendwo hinter verschlossenen Türen beschlossen werden.

Diese Debatten müssen im Bundestag geführt werden. Bevor zum jetzigen Zeitpunkt weitere Maßnahmen ergriffen werden, halte ich eine profunde Analyse für nötig, warum die bisherigen Maßnahmen nicht greifen. Ich habe die Vermutung, dass massive Vollzugsdefizite die Ursache sind. Aktuell kann durch die Verzögerung, die zwischen einer Infektion einerseits und einer Testung und Erfassung im System andererseits liegt, noch nicht einmal jemand seriös sagen, was der Lockdown wirklich bewirkt hat.

"Verzweifelte Menschen, deren Lebenswerk in Scherben liegt"

Aber welche sozialen Konsequenzen hätte das für die Gesellschaft insgesamt?

Michael Theurer: Die psychischen Belastungen, die Schäden an der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen und natürlich auch die Auswirkungen auf die Lebenschancen der Menschen sind schon jetzt gigantisch. Das wahre Ausmaß wird erst nach und nach sichtbar werden.

Und für die Wirtschaft?

Michael Theurer: Bei mir melden sich verzweifelte Menschen, deren Lebenswerk in Scherben liegt. Das macht mich persönlich sehr betroffen – gerade wenn man bedenkt, dass das in manchen Fällen doch auf der Basis eines eher mäßigen Nutzens geschieht. Die meisten haben sich von Monat zu Monat durchgekämpft und stehen jetzt mit dem Rücken zur Wand.

Gerade bei den inhabergeführten kleinen und mittleren Unternehmen sowie bei Selbständigen und Freiberuflern droht das Risiko, dass hinterher nichts mehr ist wie es war, dass es zu starken Konzentrationsprozessen kommt. Die Hilfen sind mit für manche Unternehmen hohen Hürden verbunden und kommen bisher auch deshalb nicht an, weil es die Computerprogramme für die Auszahlung noch gar nicht gibt.

In manchen Fällen sind gerade bei kleineren Unternehmen die Steuerberaterkosten höher als die Hilfszahlungen. Zu allem Überfluss werden dann rückwirkend die Regeln geändert – das ist eine Farce. Die Probleme lassen sich zusammenfassen mit: Zu spät, zu wenig, zu bürokratisch.

Die Todeszahlen haben sich sogar bei 1.000 "eingependelt". Was schlägt die FDP zum Schutz vulnerabler Gruppen vor?

Michael Theurer: Man muss bedenken, dass zwischen einer Infektion und einem möglichen Corona-Todesfall in der Regel mehrere Wochen liegen. Was wir jetzt sehen, ist ein Ergebnis der hohen Ansteckungszahlen Mitte Dezember, die zur Verschärfung des Lockdowns führten. Bisher liegt der Fokus ja darauf, die Inzidenz der Infektionszahlen auf 50 Fälle pro 100.000 Einwohner zu senken, weil man dann angeblich die Infektionsketten wieder nachvollziehen könnte. Das hat aber schon im Oktober nicht geklappt.

Mein Fokus läge eher darauf, dass möglichst wenige Menschen an Corona sterben, möglichst wenige Menschen schwere Folgeerkrankungen davontragen und es zu keinem Zeitpunkt an keinem Ort dazu kommt, dass wir in die Triage kommen.

Nach meiner Ansicht muss der Schutz von Risikogruppen oberste Priorität haben – von Taxi- oder Ubergutscheinen über massive Verteilung von FFP2-Masken und regelmäßigen verpflichtenden Tests in Alten- und Pflegeheimen bis zu abgeschichteten Einkaufszeiträumen wären dann ganz andere Maßnahmen denkbar und sinnvoll, als das bisher umgesetzt wurde.

"Kann Jahre dauern, bis Impfkampagne weltweit abgeschlossen ist"

Mittlerweile stehen Israel, Italien, Griechenland, bei manchen Zahlen gar die USA besser da. Was läuft denn da besser?

Michael Theurer: Das kommt darauf an, über welche Zahlen man genau diskutiert. Die Impfungen funktionieren in vielen Ländern besser, es haben auch viele Länder mehr von BioNtech geordert. Da hat die Bundesregierung erhebliche Fehler gemacht.

Was die Sterbezahlen angeht, hängt das natürlich auch mit dem Schutz vulnerabler Gruppen zusammen. Übrigens wissen wir auch nicht einmal annähernd, wie verbreitet die wohl ansteckendere Mutation, die in Großbritannien zuerst entdeckt wurde, hierzulande ist.

Da in Deutschland die Proben von positiv Getesteten bisher so gut wie nicht genom-sequenziert wurden, haben wir realistisch keinen Überblick, wie verbreitet diese Variante bei uns bisher ist. Wenn statistisch pro Landkreis alle anderthalb Wochen eine einzige Probe überprüft wird ist die Aussagekraft sehr gering.

In Irland und London reicht durch die Mutation die Inzidenz an 1.000 heran. Wird uns Corona noch bis 2024 oder 2025 begleiten?

Michael Theurer: Herr Spahn hatte ja zunächst zugesichert, dass bis in den Sommer jedem in Deutschland ein Impfangebot gemacht werde, inzwischen spricht er selbst schon von Herbst. Sofern das einigermaßen zutrifft, wird uns hierzulande das Thema über das Jahr 2021 hinaus nicht mehr massiv beschäftigen.

Allerdings kann es natürlich noch Jahre dauern, bis die Impfkampagne weltweit abgeschlossen ist. Und Covid-19 ist in der Welt, es muss möglicherweise länger dagegen geimpft werden. Vor allem bleibt zu hoffen, dass es bis dahin keine Mutation gibt, gegen die Impfstoffe nichts ausrichten können.

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