Prost, Kassandra!
- Jürgen Seeger
Und wieder nichts passiert. Dabei hatten alle gewarnt - nicht einmal, wiederholt. Manches kann man eben nicht oft genug sagen. Nicht nur die stadtbekannten Paranoiker und die üblichen Bedenkenträger sahen die Sache schiefgehen, sogar wir rieten zu Vorsichtsmaßnahmen. Hätte ja auch was passieren können. Große Umstellung, europaweit, verschiedene Firmen beteiligt, unterschiedliche Systeme sollen miteinander kommunizieren - seit wann geht so etwas reibungslos über die Bühne? Nicht abzusehen auch die Folgen: nach Weihnachten kein Geld!
Jedenfalls kein Geld aus dem Bankautomaten. Dieser Fall ist aber nur in wenigen Orten für höchstens ein paar Stunden eingetreten. Ansonsten ist nach allem, was bis Redaktionsschluß bekannt war, die Umstellung der Bankensoftware auf den Euro reibungslos gelaufen. Das Doppelwährungssystem steht, die Hauptlast trugen die Mitarbeiter der IT-Abteilungen der Geldinstitute. Nebenbei gesagt, wäre es auch kein Weltuntergang gewesen, für ein paar Tage mit nicht funktionierenden Cash-Spendern zu leben. Bis vor rund zwanzig Jahren kam alle Welt ganz ohne diesen Rund-um-die-Uhr-Service aus.
Dabei hielt sich die Aufregung im Falle der Währungsumstellung noch in Grenzen. Nahezu an Hysterie grenzten dagegen die Unkenrufe vor sechs Jahren, als die Bundespost ankündigte, die Postleitzahlen von vier- auf fünfstellig zu ändern. Milliardenausfälle, Konkurse, Chaos und Mißwirtschaft wurden vorausgesagt, in einigen Blättern eine Stimmung geschürt, als ob Mittelstreckenraketen und Rechtschreibreform zugleich ihre sensiblen Ziele im Herzen des Systems suchten.
Hinterher stellte sich die Sache mit den neuen Postleitzahlen als nahezu langweilig heraus. DV-Firmen und Druckereien hatten eine Menge Geld damit verdient, und das war schon alles.
Vielleicht ist diese Art der Betrachtung von Neuerungen ein spezifisch deutsches Problem, vielleicht sind auch die Medien oder die schlechte beziehungsweise verspätete Aufklärung seitens der Betreiber schuld. Und hätte nicht auch die Regierung früher ein klares Wort sagen können?
Wie auch immer - natürlich ist jetzt das Thema ‘Jahr 2000’ die folgerichtige Fortsetzung der Erörterung. Unter dem Stichwort Millennium versammeln sich erneut die Kassandren dieser Welt. Abgesehen von Weltuntergangspropheten, religiösen Eiferern und Mystikern bleiben auch in der rationalen Welt der IT-Branche genügend übrig, die wieder das Schlimmste befürchten.
Zugegeben, der Jahrtausendwechsel ist ein komplexeres Problem als Euro-Einführung oder Postleitzahlenumstellung. (Wer jetzt auf kalendarischer Genauigkeit besteht und den 1.1.2001 als das magische Datum ansieht, verpaßt wahrscheinlich viele gute Feten.) Zum Beispiel könnte es passieren, daß die ShowView-Programmierung des Videorecorders nicht mehr hinhaut, und das ist wahrlich ein großes Übel. Tausende von Home-PCs müssen am Neujahrsmorgen von Hand mit dem richtigen Datum versehen werden - was das wieder kostet. Und so fort.
Und in den Firmen? Die IT-Abteilungen arbeiten dran. Manche früher, manche später. The same procedure as every year. Besser als jedes Jahr: die Branche boomt, der Arbeitsmarkt ist leergefegt, die Informatik-Absolventen stoßen Dankgebete aus. Endlich mal Glück gehabt in der Schweinekurve zwischen Depression und Aufschwung.
Ihnen und der ganzen Branche zuliebe wollen wir auch nicht innehalten mit den Warnungen: 2002 wird der Euro in 11 europäischen Ländern alleiniges Zahlungsmittel. Was da alles passieren kann! Kaufen Sie frühzeitig Beratungsleistung ein! (js)