Best of Informationsfreiheit: Ein Sci-Hub für Nachrichten?

Der Umweg über Bibliotheksdatenbanken zu Paywall-Inhalten löst bei deutschen Verlagen Panik aus – mögliche Chancen oder drohende Gefahren erkennen sie nicht.

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(Bild: Photo Kozyr/Shutterstock.com)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Arne Semsrott
Inhaltsverzeichnis

Eigentlich ist es ein Wunder, dass es Bibliotheken gibt. Bibliotheken sind magische Orte, an denen die Idee der Informationsfreiheit mit Leben erfüllt wird. Sie bieten (fast) kostenlos Zugang zu gesammeltem Wissen, für den man in der freien Wildbahn Unmengen Geld zahlen müsste. In der Pandemiezeit ermöglichen sie auch digitalen Zugang zu Informationen, etwa über die Verbindung mit der Datenbank von genios, durch die viele Bibliotheksnutzer:innen Presseerzeugnisse lesen können. Würden Bibliotheken heutzutage erst erfunden werden, Verlage würden es verhindern.

Best of Informationsfreiheit

Freie Informationen sind eine Voraussetzung für Demokratie. Daher: Das "Best of Informationsfreiheit", alle zwei Wochen, von Arne Semsrott. Er ist Projektleiter von FragDenStaat und freier Journalist. Er arbeitet zu den Themen Informationsfreiheit, Transparenz, Lobbyismus und Migrationspolitik.

Mit ihrer Marktmacht und ihrem politischen Einfluss schaffen es die großen Verlage in Deutschland von Springer bis Holtzbrinck seit langem, Innovationen aus dem Markt zu verdrängen und damit ihre eigene Stellung zu verteidigen. Gleichzeitig (oder auch deswegen) scheitern sie seit vielen Jahren größtenteils daran, einfache, bequeme Lösungen im Digitalen zu entwickeln, um die Inhalte von Zeitungen und Magazinen attraktiv einem eigentlich gerne zahlenden Publikum anzubieten.

Ein Beispiel: Wer die Nachrichten hinter den Paywalls vom Tagesspiegel, dem Spiegel, der Süddeutschen Zeitung oder auch der Märkischen Allgemeinen Zeitung lesen will, muss jeweils ein Abo bei jedem einzelnen Medium abschließen (das in der Regel auch noch lange keine Garantie dafür ist, die jeweilige Website bequem zu nutzen). Einen gemeinsamen Bezahl-Zugang oder die Option, einen einzelnen Artikel für wenig Geld zu kaufen, gibt es nicht.

Dem Entwickler Stefan Wehrmeyer (mit dem ich bei FragDenStaat zusammenarbeite) ist es mit vergleichsweise wenig Aufwand jetzt gelungen, das Problem mit einer einfacher Browser-Extension legal zu lösen: Er veröffentlichte vor zwei Wochen den VÖBBot, der über den Umweg über Bibliotheksdatenbanken einen Zugang zu den Paywall-Inhalten ermöglicht.

Hat man die Extension installiert und gleichzeitig einen Account beim Berliner Bibliotheksverband VÖBB, loggte sich der Bot beim Besuch von Paywall-Seiten auf spiegel.de, zeit.de und Co. über die Bibliothek in die Pressedatenbank genios ein, kopierte von dort die Inhalte auf die Nachrichtenseite und, voilà, umging damit die Paywall auf spielerische Weise.

Die Verlage reagierten darauf, ihrer eigenen Tradition entsprechend, panisch: Wenige Tage nach der Veröffentlichung zwangen sie mit Drohanrufen und Kündigungsmails die Berliner Bibliotheken, den genios-Zugang mindestens vorübergehend zu blockieren. Er war in den folgenden Tagen gar nicht mehr über die Bibliotheken zugänglich – weder über den Bot noch auf direktem Wege.

Aus Hintergrundgesprächen mit Verlagsmanagern wird deutlich, dass sie offenbar noch nicht einmal verstanden haben, was der Bot überhaupt macht (obwohl der Source Code offen einsehbar ist), sondern einfach nur eine mögliche Bedrohung ihres Geschäftsmodells abschalten wollten.

Vor allem aber haben großen Verlage noch überhaupt nicht verstanden, wie Innovationen im Digitalen funktionieren können. Ein Bot wird veröffentlicht, der viele Menschen für Nachrichtenseiten interessiert? Das müsste eigentlich eine gute Sache für Verlage sein. Zeit, nachzuforschen, wer den Bot nutzt, Befragungen dazu zu starten, dem Experiment zuzuschauen und den Entwickler zu kontaktieren.

Wenn etwa der Tagesspiegel im Digitalen weiterhin wie die Axt im Walde vorgeht, sollte er sich nicht wundern, wenn er sich, wie die gesamte Branche, bald ein wesentlich radikaleres Projekt als den VÖBBot, der bereits die Wissenschaftsverlage kalt erwischt hatte: Es wäre nämlich durchaus möglich, dass bald Programmierer:innen auf die Idee kommen, eine Art Sci-Hub für deutsche Nachrichtenseiten zu entwickeln – also eine Plattform, auf der auch aktueller Paywall-Content von Nachrichtenseiten frei zur Verfügung steht, mit Servern in Russland oder anderen Jurisdiktionen, die für deutsche Ermittler außer Reichweite sind.

Vielleicht würden dann Bibliotheken auch wieder ein attraktiverer Partner für die Verlage werden. Dass die übrigens ihre machtlose Stellung gegenüber Verlagen offenbar weitestgehend akzeptieren, ist ein anderes Trauerspiel. Es wäre ihnen zu wünschen, dass die Politik ihnen den Zugang zu Verlagsinhalten erkämpft – beispielsweise mit einem gesetzlichen Zugang zu Pressedatenbanken.

(bme)