Mit Software gegen das Impfchaos

Die US-Metropole Chicago kämpft mit massiven Planungsproblemen bei den Corona-Vakzinen. Eine eigentlich als Arztbuchungssystem gestartete Plattform soll helfen.

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(Bild: CDC / PD)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Mia Sato
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Während der ersten Februarwoche ging ein Wintersturm durch Chicago und hinterließ eine Menge Schnee, dann kamen tiefe Minustemperaturen. Eve Bloomgarden, Endokrinologin am Northwestern Memorial Hospital, erhielt den Anruf einer besorgten Patientin, die in dieser Woche einen Impftermin gegen das Coronavirus hatte. Sie bereitete sich darauf vor, dem Wetter zu trotzen – und erstmals seit Beginn der Pandemie zu fahren –, denn sie befürchtete, dass es sich um ihre einzige Chance handelte, die begehrte Spritze zu erhalten. "Ich beobachte große Frustration und Ängste bei den Menschen, alleingelassen zu werden", sagt Bloomgarden.

Wie in vielen Teilen der Welt ging auch in Chicago die Verteilung der Impfdosen gegen COVID-19 langsamer vonstatten als erhofft. Nur 6 Prozent der 2,7 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt wurden bis Mitte Februar geimpft, mittlerweile läuft es besser. Die Einwohner verglichen den Prozess mit den "Tributen von Panem" (bei deren Gladiatoren-ähnlichen Spielen nur einer überlebt), denn sie blieben viele Nächte lang wach, aktualisierten unaufhörlich mehrere Websites, stets in der Hoffnung, dass ein freier Termin sich für sie auftun würde. Um das Ganze noch zu verschlimmern, waren die Registrierungsseiten klobig und schwierig zu bedienen.

Anfang Februar meldete die Abteilung für Öffentliche Gesundheit der Stadt sich mit einem Plan, der eine Lösung für einige der technischen Probleme sein sollte: Eine Zusammenarbeit mit Zocdoc, ein in den USA beliebte Online-Terminplattform für Arztpraxen. Zocdoc funktioniert als einheitliches Portal für mehrere Anbieter, sodass Menschen sich mit einem einzigen, nutzerfreundlichen Tool anmelden können, anstatt gleichzeitig mit verschiedenen Systemen zu hantieren. Während Chicago die erste Stadt war, die diese spezifische Vereinbarung mit Zocdoc getroffen hat, gehen andere Gesundheitsbehörden in den USA mittlerweile ähnliche Partnerschaften mit privaten Start-ups ein.

Vor der Pandemie agierte Zocdoc als eine Art One-Stop-Shop, in dem Patienten sich verschiedene Ärzte anschauen konnten, Anbieter medizinischer Dienstleistungen miteinander verglichen und Termine vereinbarten. Der CEO des Unternehmens, Oliver Kharraz, sagt, dass die vielen Jahren des Brückenbaus innerhalb eines fragmentierten Gesundheitssystems Zocdoc unwissentlich darauf vorbereitet haben, die Vergabeplattform für Corona-Impftermine zu werden. In den USA herrscht ein sehr kleinteiliges Gesundheitssystem vor, mit unterschiedlichen Versicherern und Selbstzahlern. Nachdem die Zocdoc-Idee im Mount Sinai Health System in New York getestet wurde, hatte sich Chicago bezüglich einer Partnerschaft gemeldet – und innerhalb weniger Wochen war das System online. Zocdoc verbindet sich mit 1400 verschiedenen Terminvergabesystemen: die individuellen Arbeitsabläufe der Ärzte bleiben also unverändert, doch Patienten sehen immer dasselbe Interface, egal, welchen Gesundheitsdienstleister sie dafür nutzen.

"Man muss sich nicht zehnmal registrieren, sondern weiß gleich, wann der nächste verfügbare Impftermin bereitsteht", sagt Kharraz. Bloomgarden, die Ärztin an der Northwestern Memorial, nennt das neue Zocdoc-Tool zwar eine "tolle Erweiterung" für Chicagos Impfstoffkampagne, räumt aber auch ein, dass es nur einen Teil der Probleme, die mit der Durchführung anstehen, behebt. Immerhin handelt es sich dabei noch immer um einen "First come, first serve"- Ansatz, der also nicht das kritischste Problem von allen löst: Die Impfungen kamen anfangs nicht bei den Leuten an, die sie am meisten brauchen, auch innerhalb der Alters- und Risikogruppen nicht.

Christina Anderson, stellvertretende Kommissarin für das Chicagoer Gesundheitsamt und Einsatzleiterin für das Corona-Krisenmanagement, hält Zocdoc zwar nicht für die zentrale Lösung, um die älteren Einwohner Chicagos zu erreichen, sieht darin aber durchaus das Potential, Personen zu helfen, die Schwierigkeiten haben, eine Impfung zu erhalten. Das betrifft beispielsweise Menschen ohne einen aktuellen Anbieter medizinischer Grundversorgung. Doch Bloomgarden sagt auch, dass eine echte Impfstoffverfügbarkeit bedeutet, gezielt den Kontakt nach Außen zu suchen – viel davon müsse offline laufen.

Beamte auf Lokal- und Bundesebene scheinen in den USA dieselben Schlüsse gezogen zu haben. Am 9. Februar verkündete der neue US-Präsident Joe Biden ein neues Programm, das Impfungen direkt an kommunale Gesundheitszentren verteilen soll, womit 30 Millionen Amerikaner, Dreiviertel von ihnen an der Schwelle oder unterhalb der Armutsgrenze, versorgt werden sollen. Qualifizierte kommunale Gesundheitszentren erhalten Mittel von der US-Bundesregierung, um die unterversorgte Bevölkerungsgruppe zu erreichen.

Keon L. Gilbert, Associate Professor für Verhaltenswissenschaften und Gesundheitspädagogik an der Saint Louis University, sagt, dass der Hilfsansatz für besonders vulnerable Bevölkerungsgruppen sich von Bundesstaat zu Bundesstaat sehr unterscheidet. In manchen Staaten wurden Erwachsene über 65 Jahren unabhängig von weiteren Risikofaktoren in der Impfstoffverteilung priorisiert. Andere Strategien sind auf Hindernisse gestoßen: Als Dallas versuchte, Menschen aus Corona-Hotspot-Vierteln priorisieren zu lassen – viele von ihnen Minoritäten – drohte der Staat plötzlich, die vorgesehene Menge an Impfstoff für den Landkreis zu reduzieren. Chicago hat zwischenzeitlich ein Programm angekündigt, das Menschen in Stadtvierteln impfen soll, in denen es einen hohen Bedarf dafür gibt. Überlastete öffentliche Gesundheitsbehörden sind möglicherweise stärker auf absolute Zahlen fokussiert als auf eine Analyse, wo der Bedarf am größten ist.

Bloomgarden und ihre Kolleginnen und Kollegen im sogenannten Illinois Medical Professionals Action Collaborative Team (IMPACT), einer Initiative, die sich als Reaktion auf die Pandemie gebildet hat, halten ein Lotterie-System für am geeignetsten. Patienten könnten sich für einen freien Termin registrieren – entweder online oder bei jemandem, der zu ihnen nach Hause kommt – und dann warten, bis sie ausgewählt werden. Eine gewichtete Lotterie könnte es Beamten ermöglichen, die Impfverteilung in Hochrisiko-Gebieten zu gewährleisten – was insbesondere in Chicago wichtig ist, wo in wohlhabenderen Stadtteilen mehr geimpft wird und weniger Menschen an COVID-19 sterben, während Arbeiterviertel mit einem hohen Anteil an afro- und lateinamerikanischen Einwohnern in der schlimmsten Lage sind.

Die stellvertretende Gesundheitskommissarin Anderson stimmt der Nützlichkeit von Lotterien nicht zu, sondern spricht sich dafür aus, dass die Stadt über kommunale Partnerschaften und direkte Kontaktaufnahmen eine Verbesserung der Impfgerechtigkeit erwirken sollte. Stadtbeamte führen einen Teil der bestehenden Unterschiede zwischen schwarzen und weißen Bürgern auf die Tatsache zurück, dass Beschäftigte im Gesundheitswesen, die sich für eine Impfung entschieden haben, aktuell eher weiß sind.

Zugangsschwierigkeiten haben nicht nur mit Ethnie und Einkommen zu tun. Einwohnerinnen und Einwohner könnten auch dann durchs Raster fallen, wenn sie nicht in Verbindung zu einer Institution wie einem lokalen Gesundheitsanbieter stehen, sagt Ali Khan, ausführender medizinischer Direktor an der Oak Street Health, einer nationalen Klinikkette, die sich um die Versorgung einkommensschwacher Senioren kümmert. Kleine Praxen oder lokale Supermärkte könnten als Impfstationen dienen, bekommen aber keine Mittel. Als Oak Street die Türen öffnete, um medizinisches Personal an der vordersten Front zu impfen, unabhängig von ihrem Arbeitsplatz, war die Warteliste fast augenblicklich Tausende von Namen lang. Sowas kann eine App nicht unbedingt lösen. "Wenn Sie nicht im richtigen System sind, wie wollen Sie dann Zugang erhalten?", fragt Khan.

Anderson sagt, dass die Stadt durchaus plane, das System für die Menschen zu verbessern, die keinem großen Versicherer angehören. Ein staatlich qualifiziertes Gesundheitssystem ist bereits im Zocdoc-System eingeschrieben, und sie erwartet, dass dem einige weitere folgen werden.

Ein weiteres Problem, das eine App nicht lösen kann, ist die Überwindung der Impf-Zögerlichkeit. Khan hält hier die Suche nach dem Gespräch für die Lösung. Indes sagt Anderson, dass Stadtbeamte "Townhall"-Veranstaltungen anbieten werden, um Fragen zur Impfung all jenen zu beantworten, die möglicherweise "langsame Ja-Sager" sind.

Unabhängig von diesen Herausforderungen glaubt Khan, dass eine Kombination verschiedener Systeme und Netzwerke den schwierigen Impf-Auftrag hinbekommen kann. Sein Fokus liegt auf dem "Bindegewebe" einer Gesellschaft, dort, wo Menschen leben, arbeiten und sich versammeln: Lebensmittelläden, religiöse Einrichtungen, Gemeindezentren und Apotheken. Was er die "langwierige Arbeit" eines solchen Netzwerkaufbaus nennt, geht weit über den Versand eines Registrierungslinks hinaus. Wie auch bei Zocdoc gehe es darum, Informationen zu zentralisieren und sie über Organisationen zu teilen – nur, dass dies hauptsächlich offline geschehe.

Bloomgarden betont, wie wichtig es ist, dies nun richtig zu erledigen und vor allem schnell. "Es ist einfach nicht möglich, dies weiter als eine 'First come, first serve'-Online-Registrierung im Netz abzuwickeln", sagt sie. "Es darf keine Neunzigjährigen geben, die rumsitzen und sich fragen, ob es jemanden gibt, der sich daran erinnert, dass sie existieren und der sie zu einer Impfung bringt."

Die Originalversion dieses Beitrags wurde im Rahmen des "Pandemic Technology Projects" von der Rockefeller Foundation unterstützt.

(bsc)