Zahlen, bitte! 53.000 Evakuierte, der KGB und die Atomkatastrophe in Tschernobyl

Der Unfall in Tschernobyl war kein Zufall. Agenten des sowjetischen Geheimdienstes berichteten über Fehler und Probleme bis zur endgültigen Katastrophe.

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Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Am heutigen Dienstag vor 35 Jahren wurde im schwedischen Kernkraftwerk Forsmark ein Großalarm ausgelöst. Arbeiter der Anlage waren so stark kontaminiert, dass man die Evakuierung vorbereitete. Erst nach mehreren Untersuchungen stand fest, dass alles dicht war und die Strahlungen von einer radioaktiven Wolke stammte. Sie zog über Südskandinavien, über die Ostsee und dann nach Deutschland und Österreich.

Evakuiert wurde am 27.4.1986 in 2000 Kilometern Entfernung: 53.000 Einwohner der ukrainischen Stadt Prypjat mussten die Stadt sofort verlassen. Diese Stadt war parallel zum Bau des Kernkraftwerkes Tschernobyl entstanden, in dem sich am 26.4 eine Nuklearkatastrophe ereignete. Erst am 30. April erfuhr die Welt in Umrissen, was sich da ereignet hatte.

Die Katastrophe von Tschernobyl entwickelte sich aus einem fehlgeschlagenen Experiment, wie man in diesem Bericht von heise online nachlesen kann. Heute weiß man, dass es keineswegs ein Zufall war, was in Tschernobyl passierte. Der ukrainische Inlandsgeheimdienst SBU veröffentlichte im vergangenen Jahr "Das Tschernobyl-Dossier – vom Bau zur Katastrophe", ein Buch, das auf den Akten des sowjetischen Geheimdienstes KGB beruhte. Dieser hatte im Jahr 1986 in Tschernobyl insgesamt 209 Agenten und Informanten im Einsatz, die bis zur endgültigen Katastrophe von einer ganzen Reihe von Fehlern und Problemen berichteten.

So gab es am 9. September 1982 einen Brand im Kernkraftwerk, der Teile von Prypjat verstrahlte und überhaupt erst dazu führte, dass ein Evakuierungsplan für diese Stadt ausgearbeitet wurde. "Dieser Unfall wurde als einer der schwersten in der Geschichte der Atomenergie eingestuft", heißt es im Agentenbericht lapidar. Zwischen 1977 und 1987 registrierten die Geheimdienstler 29 Notabschaltungen verschiedener Reaktorblöcke, davon acht Beinahe-Katastrophen, die auf "menschliches Versagen" zurückgeführt wurden. Mehrere Berichte kritisierten die mangelhafte Ausbildung der Beschäftigten im Kraftwerk, die beispielsweise vergaßen, beim Hochfahren eines Reaktorblockes das mitlaufende Notkühlsystem zu aktivieren.

Nach der Katastrophe änderte sich die Arbeit des KGB: Die Katastrophe musste vertuscht werden. Insbesondere galt es, ausländischen Agenten den Zutritt zu "verbotenen Stadt" Prypjat zu verwehren. Wer Informationen weitergab, wurde verhaftet. Militärs, die Prypjat abschotteten, konnten degradiert werden, wenn sie "panische Gespräche" ihrer Untergebenen zuließen. In der für die 53.000 Menschen aufzubauenden Ersatzstadt Slawutytsch wurden alle medizinischen Informationen einkassiert.

Bereits am 16. Mai 1986 hieß es in einer Geheimstudie: "Was uns beunruhigt, sind die Nebenwirkungen der Radioaktivität auf das Immunsystem und das Knochenmark. /../ Betroffen sind davon Kinder zwischen 10 und 12 Jahren und ältere Menschen." Die Lebenserwartung der ukrainischen Bevölkerung werde um 1 bis 2 Jahre sinken, heißt es in der Studie. Doch nicht nur der KGB vertuschte und verharmloste den Reaktorunfall. Wenige Wochen nach dem Unfall beklagte der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß eine "Lawine der Irrationalität" in Deutschland und warnte vor einem Ausstieg aus der Atomkraft. Dies sei der Todesstoß für unsere Wirtschaft, erklärte Strauß.

Anders als heute, wo Mensch sich selbst Messgeräte bauen kann oder gar das Smartphone mit einer App als Geigerzähler nutzen kann, herrschte damals ein großer Mangel an Messgeräten wie am Wissen über die Kraftwerkstechnik.

Davon kann heute nicht die Rede sein. Heute gibt es einen regen Tourismus nach Prypjat. Besonders Mutige können dort sogar übernachten, mit einem eigenen Geigerzähler versehen. Wer sich heute über die Ereignisse von damals mitsamt der Evakuierung von 53.000 Menschen informieren will, sei auf den sehenswerten Mehrteiler "Chernobyl" verwiesen, der mittlerweile in der Mediathek von ProSieben zu finden ist. Was parallel dazu in Deutschland passierte, findet sich "Die Wolke über Deutschland".

(jk)