Anthropologische Studie: Smartphones sind längst der "Ort in dem wir leben"

Smartphones sind ein zentraler Teil des Lebens von Menschen in aller Welt. Das hat teilweise erhebliche Auswirkungen – positive und negative.

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(Bild: DisobeyArt/Shutterstock.com)

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Das Smartphone ist nicht mehr das Gerät, mittels dem wir kommunizieren, sondern auch "ein Platz in dem wir wohnen". Zu diesem Schluss kommt eine Gruppe von Anthropologinnen und Anthropologen, die untersucht haben, wie individuelle, vor allem ältere Menschen überall in der Welt ihre Smartphones benutzen und was sie darüber danken.

Dabei haben sie viele Gemeinsamkeiten gefunden, aber auch eine Reihe von Unterschieden. Das Smartphone ist demnach ein Gerät, das die globale Vielfalt offenkundig macht und nicht unterdrückt. Gleichzeitig haben sie zusammengetragen, dass Smartphones vielerorts vor allem als Zugang zu ganz bestimmten Apps wertgeschätzt werden.

Wie in der frei zum Download stehenden, über 300-seitigen Analyse erklärt wird, sei die Untersuchung erst jetzt möglich geworden. Noch bei der vorherigen Forschungsarbeit über Social Media seien die Befragten in aller Welt sicher gewesen, dass Smartphones nie etwas für Menschen über 40 Jahren sein würden: "Diese Grenze ist nun zertrümmert." Inzwischen sei die Gerätekategorie zentraler Bestandteil im Leben von 3,5 Milliarden Menschen. Die Feldforschung für die nun vorgelegte Studie wurde demnach vor der Corona-Pandemie durchgeführt und schon da habe sich bestätigt, was im Zuge der weltweiten Kontakteinschränkungen im vergangenen Jahr nur noch deutlicher wurde.

Als wichtigste Bilanz kommen sie zu dem Schluss, dass wir in unserem Smartphone "immer zuhause" seien. Das Gerät sei womöglich das Erste, dass unser Haus beziehungsweise unsere Wohnung – "und möglicherweise den Arbeitsplatz" – tatsächlich herausfordere, wie sie schreiben. Wie menschliche Schnecken würden wir unser Haus in unseren Hosentaschen umhertragen. Als Beispiel führen sie sizilianische Migrant:innen in Mailand an, die dank Smartphone auch in ihrer Heimat bleiben würden. Ähnlich gehe es Großeltern in Schanghai, die für die Kinderbetreuung in der Metropole gezogen sind und über das Mobilgerät an ihren alten Kontakten festhalten. Als Bestätigung für die Haus-Metapher wird in der Studie auch aufgeführt, wie Menschen überall auf der Welt stolz verkünden, dass und wie sie ihre Smartphones "sauber" halten würden – ganz wie eine Wohnung.

Wenn etwa jemand in Gesellschaft im Restaurant ins Smartphone versunken ist, sei er oder sie "nach Hause gegangen", heißt es außerdem. Solch ein Verhalten werde das traditionelle Verständnis von öffentlich und privat drastisch verändern, prognostizieren sie. Daneben weisen sie aber auch darauf hin, dass die Übernahme des Smartphones als alternatives Zuhause an Orten besonders wichtig sei, wo Menschen nicht wie früher in jungen Jahren aus dem Elternhaus ausziehen können. Es sei nicht verwunderlich, dass sie sich besonders eng an ihr "mobiles Heim" klammern würden, während die Kritik oft von Menschen komme, die in ihrer eigenen oder gemieteten Wohnung leben könnten.

Weiterhin bilanzieren sie, dass Smartphones eine zentrale Rolle in allen Arten von persönlichen Verhältnissen übernommen habe, nicht nur als Kommunikationsmedium, sondern als Teil der Beziehungen selbst. So würden die Geräte jene fundamentale Entwicklung in Familien zurückdrehen, die je nach Region seit Jahrhunderten oder Jahrzehnten beobachtet wird: Die vor allem räumliche Konzentration auf die Kernfamilie. Nicht nur durch Gruppenchats etwa in WhatsApp ergebe sich der Anschein, dass Großeltern, Cousinen, Onkel, Tanten und entfernte Verwandte dank Smartphones wieder viel präsenter würden. Außerdem sehen die Forschenden Hinweise darauf, dass Smartphones einen Anteil daran haben, dass der Übergang zwischen Familien und Freunden fließender werde.

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Andererseits sei bei der Feldforschung auch deutlich geworden, wie Smartphones generationenübergreifende Probleme erschaffen würden. Dem liegt der Unterschied in der Nutzungskompetenz zugrunde und an vielen Orten seien die jungen Menschen "schockierend ungeduldig" gewesen. Die würden oft Smartphones in die Hand nehmen, eine Handlung einmal ausführen und dann davon ausgehen, dass Ältere nun wissen würden, "wie das Telefon funktioniert". Auf diese Weise würden etwa in Yaoundé in Kamerun traditionelle Rollenbilder in Bezug auf Autorität und Respekt umgedreht. Verstärkt wird das dadurch, dass Ältere oft die abgelegten Smartphones von Jüngeren bekommen.

Hervorgehoben wird schließlich noch, dass die Befragten oft im Allgemeinen kritisch über Smartphones sprechen (vor allem in Bezug auf andere Personen), dann aber teilweise im gleichen Satz schwärmen würden, was konkrete Apps für sie bedeuten. Dabei stechen einzelne hervor, denen in der Forschungsarbeit als dem "Herz des Smartphones" ein ganzes Kapitel gewidmet ist. Je nach Land dominierten Messenger wie Line, WeChat und WhatsApp die Nutzung auf Smartphones dermaßen, dass sie fast synonym zu dem Gerät seien. Auf diesen Plattformen würden Familien zusammenkommen, "Eltern endlos Fotos von ihren Kindern verschicken" und Migrant:innen mit ihren Familien kommunizieren. Gleichzeitig werde in diesem Zusammenhang aber auch immer wieder auf das Problemfeld Überwachung und den mit der Nutzung verbundenen Stress und eine gefühlte Abhängigkeit von den Apps verwiesen.

Die gesamte englischsprachige Studie mit dem Titel "The Global Smartphone. Beyond a youth technology" kann kostenlos bei UCL Press heruntergeladen werden. Die Feldforschung der Anthropologen fand in Brasilien, Irland, dem besetzten Ostjerusalem, Uganda, Japan, Italien, Chile, China und Kamerun statt.

(mho)