Kommentar: Warum das bedingungslose Grundeinkommen Ungleichheit nicht reduziert

Die Pandemie hat die Ungleichheit verstärkt. Kein Wunder, dass die Stimmen nach dem Grundeinkommen lauter werden. Doch das Konzept geht nach wie vor nicht auf.

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(Bild: Michael Longmire / Unsplash)

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Das bedingungslose Grundeinkommen (BGE) mag als modern und innovativ gelten. In Wahrheit ist die Idee aber schon 500 Jahre alt. Sie geht zurück bis ins 16. Jahrhundert, als Thomas Morus in seinem Roman „Utopia“ von 1516 vorschlug, Dieben eine Art Lebensunterhalt auszuzahlen, anstatt sie zu bestrafen. Die Diskussion hält sich bis heute. Immer wieder gibt es Feldversuche, wie zum Beispiel in Finnland oder in den Niederlanden, die herausfinden wollen, wie Menschen ihr Leben verändern, wenn sie regelmäßig ein BGE ausbezahlt bekommen. In der Schweiz kam es vor einigen Jahren sogar zur ersten Volksabstimmung über die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens: 23 Prozent sprachen sich dafür aus, die Mehrheit dagegen.

Der Ausbruch der Corona-Pandemie hat das BGE erneut auf die Agenda gebracht. Schließlich verschärft die Pandemie die soziale Ungleichheit. Denn wie sich gezeigt hat: Wer es sich leisten kann, arbeitet relativ bequem im Homeoffice und engagiert Nachhilfe für seine Kinder. Doch viele Jobs sind entweder nicht geeignet fürs Homeoffice oder existieren vielleicht überhaupt nicht mehr, weil Branchen wie Gastronomie oder Tourismus viele Monate stillstanden. Bereits im Frühjahr 2020 wurde eine Petition in den Bundestag eingereicht, die 180000 Menschen unterzeichneten. Selbst Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung plädiert in einer Kolumne im Februar diesen Jahres für das BGE: „Und wenn nicht jetzt, wann dann? Die Pandemie macht die Zeit reif dafür, sich für eine Erprobung des bedingungslosen Grundeinkommens zu öffnen.“

Lange Zeit war eines der wesentlichen Argumente für das BGE der technologische Fortschritt und die damit einhergehende Vernichtung von Arbeitsplätzen. Doch so groß die Angst lange Zeit war, die vergangenen Jahre zeigen, dass die Digitalisierung der Arbeits- und Wirtschaftswelt eher dazu führt, dass neue Arbeitsplätze entstehen und sich die Arbeit verändert – sie aber nicht weniger wird.

Der Ökonom Erik Brynjolfsson beschreibt im Interview dieser Ausgabe genau dies. Nachdem er im Buch „The Second Machine Age“ noch prophezeite, dass selbst Berufe, die lange Zeit als sicher galten, automatisiert werden, konstatiert er fast acht Jahre später: „Ich teile die Bedenken überhaupt nicht, dass Technologie in absehbarer Zeit zu Massenarbeitslosigkeit führt. (…) Maschinelles Lernen ist in vielen Dingen sehr gut, aber noch können die meisten Tasks von Menschen besser erledigt werden.“

In einer Studie haben er und sein Team 18000 Tasks in rund 900 Berufen angeschaut. Beispiel Radiologie: Weil KI besser darin ist, medizinische Bildgebung auszuwerten, galt der Beruf in den vergangenen Jahren als Auslaufmodell. Aber laut der Studie von Brynjolfsson verantworten Radiologen 27 verschiedene Teilaufgaben. Und nur eine einzige davon ist es, Bilder auszuwerten. Maschinen können keine Sprechstunden abhalten oder in den Austausch mit Patienten treten.

TR 4/2021

Diese Ergebnisse zeigen gleich zwei Dinge: Zunächst einmal, dass die Diskussion um Automatisierung und Arbeitsplatzverluste in den vergangenen Jahren an der Realität vorbei gegangen ist. Ja, es fallen Jobs weg, aber es kommen auch neue dazu. Die zum Teil hysterisch geführten Debatten ähnelten eher Dystopien, wie sie aus Hollywood bekannt sind. Insofern ist zweitens die Diskussion um ein BGE eine Phantomdebatte, weil eines ihrer zentralen Argumente dafür nicht mehr überzeugt.

Was natürlich immer noch verfängt, ist die Klage über eine zunehmend ungleiche Verteilung des angehäuften Reichtums. Dass der Wohlstand gerechter verteilt werden muss, zeigen die Zahlen: Laut einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsförderung von 2020 besitzen 10 Prozent der Erwachsenen in Deutschland 67 Prozent des Vermögens, 90 Prozent besitzen 33 Prozent. Die Pandemie wird diese Zahlen vermutlich noch mal stärker in Richtung der wohlhabenden zehn Prozent verändert haben.

Hier wären eigentlich politische Maßnahmen gefragt – etwa in der Steuerpolitik oder in der Arbeitsmarktpolitik. Steuerschlupflöcher schließen, internationale Steuervereinbarungen voranbringen, um beispielsweise auch die großen Tech-Unternehmen stärker in die Pflicht zu nehmen. Ein höherer Mindestlohn, höhere Löhne im Pflege- und Bildungsbereich, stärkere Berücksichtigung von Care-Arbeit, die bis heute gesellschaftlich viel zu wenig gewertschätzt wird. Vermutlich wäre die Wirtschaft zusammengebrochen, ohne die Care-Arbeit von Millionen von Familien.

Dieser politische Prozess ist anstrengend. Warum also nicht alles streichen und ein einfaches System der finanziellen Unterstützung einführen? Gerade jetzt in der größten Krise seit dem 2. Weltkrieg? Weil ein bedingungsloses Grundeinkommen das gesellschaftliche Leben auf die sozioökonomische Perspektive reduziert. Nur weil Menschen über ein geregeltes Einkommen verfügen, heißt das nicht, dass die Lebensverhältnisse gerechter werden.

Der Soziologe Pierre Bourdieu hat in seinem Buch „Die feinen Unterschiede“ herausgearbeitet, dass das ökonomische Kapital in spätmodernen Gesellschaften nicht die einzige Dimension sozialer Ungleichheit ist. Soziales und vor allem auch kulturelles Kapital spielen eine wichtige Rolle: Ersteres entsteht durch Zugehörigkeit zu einer Gruppe, die oftmals herkunftsbedingt ist und Zugang zu einflussreichen sozialen Kreisen ermöglicht. Letzteres bezieht sich auf Bildung, wird in der Regel in der Familie weitergegeben und ist stark körpergebunden, heißt: manifestiert sich beispielsweise in der Art des Gehens oder Sprechens.

Ein Kommentar von Luca Caracciolo

Luca Caracciolo ist Chefredakteur der deutschen Ausgabe der Technology Review. Davor war er neun Jahre bei t3n tätig, zuletzt als Gesamt-Chefredakteur.

Die Frontlinien heutiger Ungleichheit verlaufen nicht mehr nur im Einkaufszentrum oder in der Edelboutique. Sie zeigen sich auf sozialen Plattformen wie Instagram, wo Nutzer ihre unverwechselbaren Lebensmodelle vorleben und präsentieren, wie besonders sie sind. Der Soziologe Andreas Reckwitz schreibt in seinem Buch „Das Ende der Illusionen – Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“ ganz treffend dazu: „Im grellen Licht der Öffentlichkeit tanzt die spätmoderne Kultur ums goldene Kalb der positiven Emotionen und bringt zugleich im Verborgenen (…) systematisch negative Emotionen von erheblicher Intensität hervor. Diese gründen in der Enttäuschung angesichts einer wahrgenommenen Diskrepanz zwischen Erwartung und Realität.“

Das grelle Licht der Öffentlichkeit sind zum Beispiel die zur Schau gestellten, singulären Lebensentwürfe auf sozialen Plattformen. Enttäuschung entsteht bei denjenigen, die sich abgehängt fühlen, weil sie kaum eine Chance haben, diese Lebensentwürfe selbst zu realisieren oder auch nur „in ihre Nähe“ zu kommen.

Wer deshalb glaubt, dass der regelmäßige Gehaltsscheck reicht, um die heutigen Ungleichheiten zu reduzieren, vernachlässigt ihre kulturellen und sozialen Dimensionen. Teil von etwas zu sein, dazuzugehören, soziale Teilhabe: Das sind ungemein starke Triebkräfte unserer spätmodernen Gesellschaften.

Vor diesem Hintergrund ist Arbeit ein integrierendes Element und für viele Menschen der wichtigste Zugang zu sozialer Teilhabe. Das gilt vor allem für bildungsferne Schichten. Der befreiende Charakter eines bedingungslosen Grundeinkommens gilt oftmals nur für Menschen mit hohem sozialen und kulturellen Kapital. Sie sind vernetzt, probieren sich aus, erfinden sich neu, „nehmen ihr Leben in den Griff“. Weltbürger, die sich auf der ganzen Welt zuhause fühlen und für die ihre Identität bei der Auswahl des richtigen Müslis beginnt. Genau diese „neue“ Mittelschicht ist auch relativ milde durch die Pandemie gekommen, weil der digitale Raum ihr nahezu natürliches Habitat ist. Das sind aber privilegierte Kreise unserer Gesellschaft, die sich in den vergangenen Jahren eher noch stärker abgekoppelt haben vom Rest.

Natürlich wehrt sich niemand gegen bedingungsloses Geld. Dass ein BGE aber den immer breiter werdenden Graben kittet, der sich quer durch unsere Gesellschaft zieht, ist Wunschdenken. Die Pandemie hat daran rein gar nichts geändert. Im Gegenteil: Das Virus fordert uns als Gesellschaft noch stärker heraus, uns um diejenigen zu kümmern, die auf der Strecke bleiben. Allein die Kinder und Jugendlichen aus bildungsfernen Schichten zu erreichen und die Lücken und psychischen Folgen der Pandemie zu schließen, ist eine gesellschaftliche Mammutaufgabe. Darum sollten wir uns jetzt kümmern und keine Scheindebatten um das BGE führen, dass die Gräben vielleicht sogar eher vertiefen würde.

Dieser Beitrag stammt aus der neuen TR-Ausgabe 4/2021, die Sie hier bestellen können. Das Heft gibt es auch als günstiges Bundle aus Print- und Digital-Ausgabe. (bsc)