Zahlen bitte! 800 Stunden für ein Neutrino – zur Erinnerung an Jack Steinberger

Vor 100 Jahren wurde der Atomphysiker Jack Steinberger in Bad Kissingen geboren. 1961/62 arbeitete er in einem Team, dem der Nachweis des Myon-Neutrinos gelang.

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Von
  • Detlef Borchers
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Jack Steinberger und seine Kollegen konnten 1962 nachweisen, dass es neben dem Elektron-Neutrino noch ein Myon-Neutrino gab (das dritte Elementarteilichen Tau-Neutrino wurde später gefunden). Das Experiment, das die Wissenschaftler am Brookhaven National Laboratory in Long Island durchführten, um einen reinen Neutrinostrahl zu erzeugen, gehörte zur Großforschung.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Acht Monate lang feuerten sie Protonen auf ein Stück Beryllium und lenkten den Teilchenstrahl auf einen 12 Meter dicken Aluminiumblock, gefertigt aus Panzerungen von abgewrackten Schlachtschiffen. Alle Teilchen außer Neutrinos sollten so gestoppt werden, sodass in einer über 100 Tonnen schweren Funkenkammer diese Neutrinos nachgewiesen werden können. Messungen von 800 Stunden mussten ausgewertet werden, ehe der Nachweis des Myon-Neutrions gelang. Für diesen Nachweis erhielten Jack Steinberger, Melvin Schwartz und Leon Max Lederman den Physik-Nobelpreis.

Es gehörte zum Charakter von Jack Steinberger, dass er diesem Nobelpreis keine besondere Bedeutung zumaß. Im Interview mit der Süddeutschen Zeitung sagte er: "Der Nobelpreis spielte in meinem Leben keine große Rolle. Ich hatte nie den Eindruck, dass ich für meine Arbeit eine besondere Auszeichnung verdient hätte. An der besagten Arbeit waren sieben Forscher beteiligt, prämiert wurden aber nur zwei Kollegen und ich. Wie kann das Nobelpreiskomitee in Stockholm beurteilen, wer von uns was getan hat?"

Auch sonst war Steinberger recht gradlinig. Als Schüler von Enrico Fermi schlug er das Angebot aus, wie sein Kommilitone Richard Garwin an der Entwicklung der Wasserstoff-Atombombe mitzuarbeiten. Er ging stattdessen an die Universität Berkeley, doch das währte nur kurz, wie er in seiner eingereichten Vita zur Verleihung des Nobelpreises erklärte: "Ich überlebte nur ein Jahr in Berkeley, zum Teil, weil ich mich weigerte, den antikommunistischen Eid abzugeben und ging 1950 an die Columbia University." Damit gehörte Jack Steinberger zu den Opfern der MacCarthy-Ära.

Mitte der 80er Jahre begann Steinberger, mittlerweile am Genfer Kernforschungszentrum CERN, sich für die atomare Abrüstung beim Bulletin of Atomic Scientists zu engagieren und für eine aktive Klimapolitik zu werben. Eine seiner bekanntesten Reden war "Abolishing Nuclear Weapons" im Jahre 2009, ein Vortrag zum 50. Jahrestag der Vereinigung deutscher Wissenschaftler. In ihr zeigte er, dass Atomausstieg und Klimaschutz zwei Seiten eines Problems sind, das gelöst werden will. Große Hoffnungen setzte Steinberger auf US-Präsident Obama, der in seiner Prager Rede den Atomausstieg der USA skizziert hatte.

Der Rückzieher von Obama enttäuschte Steinberger, der im eingangs erwähnten Interview 2013 erzählte: "Und deshalb würde ich mich heute eher mit der Ökologie und der Frage des Überlebens unseres Planeten beschäftigen. Natürlich wird dieses Feld vor allem von der Politik bestimmt, deshalb kann ich nicht ganz sicher sagen, ob ich das aushalten würde." Ein bisschen hielt er es aber noch aus. So unterzeichnete Jack Steinberger im Jahre 2015 die Mainauer Deklaration der Nobelpreisträger zum Klimawandel, die vor dem Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um mehr als 2 Grad Celsius warnte: "Untätigkeit würde bedeuten, dass wir künftige Generationen der Menschheit einem unzumutbaren Risiko aussetzen."

Jack Steinberger wurde am 25. Mai 1921 in Bad Kissingen als Hans Jakob Steinberger geboren. Sein Vater war Kantor der jüdischen Gemeinde, seine Mutter unterrichtete Englisch. Beide waren in der Gemeinde engagiert und erlebten frühzeitig den aufkommenden Antisemitismus, obwohl der Vater im Ersten Weltkrieg stolz für Deutschland gekämpft hatte. Im Alter von 13 Jahren war Jack mit seinem ein Jahr älteren Bruder Heinrich eines von 300 Kindern einer jüdischen Initiative, die aus Deutschland in die USA geschickt und dort von US-Familien adoptiert wurden. Die Brüder kamen Weihnachten 1934 in den USA an und wurden nach Chicago zur Familie von Barnett Faroll geschickt, einem Weizenhändler. Dieser finanzierte schließlich auch die Überfahrt der Eltern und des jüngsten Bruders im Jahr 1938.

In Chicago eröffnete die Familie einen Delikatessenladen, in dem Jack mitarbeiten musste. Nach der Schule studierte Jack Chemie und brach das Studium mit dem Kriegseintritt der USA ab. Als Soldat wechselte Steinberger in die Physik und arbeitete am MIT an der Konstruktion neuer Antennen. Nach dem Krieg konnte er mit Hilfe der G.I. Bill an der Universität von Chicago studieren und bei Enrico Fermi promovieren. Von 1959 war er Forschungsassistent, dann Professor für Teilchenphysik an mehreren Universitäten.

1968 wechselte er zum CERN in Genf, zunächst als Forscher, später als Leiter von Großexperimenten und dann bis zu seiner Emeritierung als Sprecher für das ALEPH-Projekt: "Einige Zeit konnte ich als Manager helfen, aber auch zu dem Detektor-Design und der physikalischen Analyse beitragen. Das endete 1995, auch weil ich keine Ideen zur neuen Physik hatte, über die wir etwas hätten lernen können und auch weil die Herausforderungen immer technischer wurden, vor allem bei der Benutzung von Computern. Da konnte ich mit der jüngeren Generation nicht mehr konkurrieren."

Nach der Emeritierung beschäftigte sich Steinberger mit der kosmischen Physik und der kosmischen Hintergrundstrahlung von Mikrowellen. Der erklärte Atheist starb im Alter von 99 Jahren am 12. Dezember 2020 in Genf.

(mho)