Diese KI lernt, indem sie sich selbst neuen Herausforderungen stellt

Der Mensch hat sich stets schwergetan, wirklich intelligente Maschinen zu bauen. Vielleicht sollten wir KIs selbst an dem Problem arbeiten lassen, so Forscher.

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Lesezeit: 28 Min.
Von
  • Will Douglas Heaven
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Ein Strichmännchen mit einem keilartigen Kopf schlurft über den Bildschirm. Es bewegt sich halb gehockt, wobei es ein Knie über den Boden schleift. Doch: Es läuft! Zumindest sozusagen. Trotzdem ist Rui Wang begeistert. "Jeden Tag gehe ich in mein Büro, starte meinen Computer, und ich weiß nicht, was mich erwartet", sagt er.

Als Forscher für künstliche Intelligenz beim Fahrdienst Uber lässt Wang gerne den sogenannten Paired Open-Ended Trailblazer (POET), eine Software, die er selbst mitentwickelt hat, über Nacht auf seinem Rechner laufen. POET ist eine Art Trainings-Dojo für virtuelle Roboter. Bis jetzt lernen sie noch nicht viel. Wangs KI-Agenten spielen nicht Go, detektieren keine ersten Anzeichen von Krebs und falten auch keine Proteine – sie versuchen schlicht, durch eine krude Cartoon-Landschaft aus Zäunen und Schluchten zu navigieren, ohne dabei umzufallen.

Aber nicht das, was die Bots lernen, ist spannend, sondern wie sie lernen. POET generiert den Hindernisparcours, bewertet die Fähigkeiten der Bots und weist ihnen dann die nächste Herausforderung zu – und all das ohne menschliches Zutun. Schritt für Schritt verbessern sich die Bots durch Versuch und Irrtum. "Irgendwann springt der Roboter vielleicht wie ein Kung-Fu-Meister über eine Klippe", hofft Wang. Für den KI-Experten und eine Handvoll anderer Forscher deutet POET auf einen revolutionären neuen Weg hin, supersmarte Maschinen zu erschaffen: indem man KI-Systeme dazu bringt, es einfach selbst zu machen.

Wangs ehemaliger Kollege Jeff Clune ist einer der größten Befürworter dieser Idee. Clune hat jahrelang daran gearbeitet, zuerst an der University of Wyoming und dann bei Uber AI Labs, wo er mit Wang und anderen zusammenarbeitete. Jetzt teilt er seine Zeit zwischen der University of British Columbia und der KI-Firma OpenAI auf und hat dabei die Unterstützung eines der weltbesten Labore für künstliche Intelligenz.

Clune bezeichnet den Versuch, eine wirklich smarte KI zu entwickeln, als das ehrgeizigste wissenschaftliche Unterfangen in der Geschichte der Menschheit. Heute, sieben Jahrzehnte nach dem Beginn ernsthafter Bemühungen, KI-Systeme zu entwickeln, sind wir immer noch weit davon entfernt, Maschinen zu schaffen, die auch nur annähernd so intelligent sind wie Menschen, geschweige denn intelligenter. Clune glaubt, dass POET hier eine Art Abkürzung darstellen könnte. "Wir müssen die Fesseln ablegen und dürfen uns nicht mehr selbst im Weg stehen", sagt er.

Wenn Clune Recht hat, könnte der Einsatz von KI zur Produktion von KI ein wichtiger Schritt auf dem Weg sein, der eines Tages zu einer sogenannten künstlichen allgemeinen Intelligenz (Artificial General Intelligence, AGI) führt – Maschinen, die den Menschen übertreffen können. In naher Zukunft könnte uns die Technik auch dabei helfen, andere Arten von Intelligenz zu entdecken: nicht-menschliche Intelligenz, die auf unerwartete Weise Lösungen finden kann und vielleicht unsere eigene Intelligenz ergänzt, anstatt sie zu ersetzen.

TR sprach mit Clune zum ersten Mal Anfang letzten Jahres über diese Idee, nur wenige Wochen nach seinem Wechsel zu OpenAI. Er war gerne bereit, über seine bisherige Arbeit zu sprechen, blieb aber wortkarg, was er mit seinem neuen Team vorhabe. Anstatt das Gespräch im Büro anzunehmen, zog er es vor, die Straße außerhalb des Gebäudes auf und ab zu gehen, während wir uns unterhielten. Alles, was Clune sagen wollte, war, dass OpenAI gut zu ihm passe. "Meine Ideen decken sich mit vielen der Dinge, die man hier für richtig hält", sagte er. "Es ist wie eine Ehe, die der Himmel geschlossen hat. OpenAI mochte meine Vision und wollte, dass ich komme und sie weiterverfolge." Wenige Monate nach Clunes Einstieg stellte OpenAI auch den Großteil seines alten Uber-KI-Teams ein.

Die ehrgeizige Vision von Clune wird nicht nur durch die Investitionen von OpenAI gestützt. Die Geschichte der KI ist voll von Beispielen, in denen von Menschen entwickelte Lösungen maschinell lernenden Systemen Platz machten. Nehmen wir die Computer Vision, also die Bilderkennung: Vor einem Jahrzehnt kam der große Durchbruch, als bestehende handgestrickte Systeme durch solche ersetzt wurden, die selbst von Grund auf lernten. Genauso verhält es sich mit vielen weiteren KI-Erfolgen.

Das Faszinierende an der KI und insbesondere am maschinellen Lernen ist deren Fähigkeit, Lösungen zu finden, die Menschen nicht gefunden hätten – und uns dabei zu überraschen. Ein oft zitiertes Beispiel ist AlphaGo (und sein Nachfolger AlphaZero), das menschliche Go-Meister, in dem uralten Spiel besiegen kann, indem es scheinbar komplett fremdartige Strategien einsetzte. Nach Hunderten von Jahren, in denen menschliche Meister Strategien entwickelten, fand die KI Lösungen, an die bislang niemand gedacht hatte.

Clune arbeitet nun mit einem Team bei OpenAI, das bereits 2018 Bots entwickelte, die lernten, in einer virtuellen Umgebung Verstecken zu spielen. Diese Systeme begannen mit ganz einfachen Zielen und noch einfacheren Werkzeugen, um diese zu erreichen: Ein Pärchen musste das andere finden, das sich hinter beweglichen Hindernissen verstecken konnte. Doch als diesen Bots das Lernen erlaubt wurde, fanden sie bald Wege, ihre Umgebung auf eine Art und Weise auszunutzen, die die Forscher nicht vorhergesehen hatten. Sie verwendeten plötzlich Programmierfehler in der simulierten Physik ihrer virtuellen Welt, um über Wände zu springen und sogar durch sie hindurchzugehen. Diese Art von unerwartetem Verhalten ist ein verlockender Hinweis darauf, dass KI zu technischen Lösungen kommen könnte, auf die der Mensch selbst nicht gekommen wäre, indem er neue und effizientere Algorithmen oder neuronale Netzwerke einfach von Hand gestaltet. Zum Teil werden mittlerweile sogar neuronale Netzwerke, Eckpfeiler der modernen KI, ganz über Bord geworfen.

Clune erinnert gerne daran, dass Intelligenz bereits aus geringsten Anfängen hervorgegangen ist. "Das Interessante an diesem Ansatz ist, dass wir wissen, dass es funktionieren kann", sagt er. "Der sehr einfache Algorithmus von Darwins Evolution hat unser Gehirn hervorgebracht, und unser Gehirn ist der intelligenteste Lernalgorithmus im Universum, den wir kennen." Wenn Intelligenz aus der scheinbar sinnfreien Mutation von Genen über zahllose Generationen hinweg entstanden ist, warum sollte man dann nicht versuchen, den Prozess, der Intelligenz erzeugt, zu replizieren? Schließlich ist der deutlich einfacher als echte Intelligenz selbst.

Aber es gibt hier noch eine weitere entscheidende Beobachtung. Intelligenz war nie ein Endpunkt der Evolution, etwas, das man anstreben sollte. Stattdessen entstand sie in vielen verschiedenen Formen aus unzähligen winzigen Lösungen für Herausforderungen, die es Lebewesen ermöglichten, zu überleben und zukünftige Herausforderungen anzunehmen. Intelligenz ist der aktuelle Höhepunkt in einem fortlaufenden und ergebnisoffenen Prozess. In diesem Sinne ist die Evolution ganz anders als Algorithmen, wie man sie sich normalerweise vorstellt – als Mittel zum Zweck.

Es ist diese Offenheit für Neues, die sich in der scheinbar ziellosen Abfolge der von POET generierten Herausforderungen zeigt, von der Clune und andere glauben, dass sie zu veränderten Arten von KI führen könnte. Seit Jahrzehnten versuchen KI-Forscher, Algorithmen zu entwickeln, die die menschliche Intelligenz nachahmen, aber der wirkliche Durchbruch könnte darin bestehen, Algorithmen zu entwickeln, die versuchen, das ergebnisoffene Problemlösen der Evolution zu imitieren. Die Forscher können sich dann zurückzulehnen und beobachten, was dabei herauskommt.