5 Gründe, warum Corona-Varianten Grund zur Vorsicht, aber nicht zur Panik sind

Die COVID-19-Varianten dürften die Impfstoffentwicklung nicht zurück auf Null bringen, meinen Forscher.

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Impfen soll uns zur Herdenimmunität führen.

(Bild: kckate16 / Shutterstock.com)

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Von
  • Cassandra Willyard
Inhaltsverzeichnis

Am 10. Mai hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine neue COVID-19-Virusvariante in ihre Liste jener Neuinkarnationen von SARS-CoV-2 aufgenommen, die weltweit Anlass zur Sorge geben. B.1.617.2 (neuer WHO-Name: Delta) wird für die außer Kontrolle geratenen Infektionen in Indien verantwortlich gemacht. Es ist die vierte Ergänzung einer Liste, die auch die früheren besorgniserregenden Varianten enthält, die erstmals in Großbritannien (B.1.1.7 oder Alpha), Südafrika (B.1.351 oder Beta) und Brasilien (P.1 oder Gamma) identifiziert wurden. „Es gibt einige verfügbare Informationen, die auf eine erhöhte Übertragbarkeit hinweisen“, sagte Maria Van Kerkhove, technische Leiterin der WHO für COVID-19, bei einem Briefing.

Mit jeder neuen Variante wächst das Unbehagen. Nachrichten über „Doppelmutanten“ und „gefährliche Varianten“ wecken die Befürchtung, dass diese Viren der Immunantwort ausweichen und unsere besten Impfstoffe unwirksam machen könnten. Aber fürs erste „hat sich das Virus nicht grundlegend geändert“, sagt Kartik Chandran, Virologe am Albert Einstein College of Medicine in New York.

Impfstoffe können mit der Zeit weniger wirksam werden, aber „ich glaube nicht, dass die Gefahr unmittelbar bevorsteht, dass wir wieder auf Start zurückkehren“, sagt Thomas Friedrich, Virologe an der veterinärmedizinischen Fakultät der Universität von Wisconsin. „Wir sollten besorgt sein, aber nicht ausflippen.“

Hier sind fünf Gründe, die für vorsichtigen Optimismus sprechen:

Frühe Berichte deuteten darauf hin, dass die aktuellen COVID-19-Impfstoffe gegen einige Varianten möglicherweise nicht so gut wirken, einschließlich der erstmals in Südafrika identifizierten Version. In Labortests konnten Antikörper von geimpften Personen die B-1.351-Variante nicht so effektiv neutralisieren wie das ursprüngliche Virus. Aus Felddaten in Katar geht jedoch hervor, dass der Biontech-Pfizer-Impfstoff auch gegen B.1.351 recht gut funktioniert, wie katarische Forscher im Fachjournal "New England Journal of Medicine" (NEJM) berichten. Die vollständige Impfung bot 75 Prozent Schutz gegen B.1.351-Infektionen; Das ist weniger als die 95-prozentige Wirksamkeit, die in den klinischen Studien für das ursprüngliche Virus angegeben wurde, aber immer noch „ein Wunder“, sagt Andrew Read, Krankheitsökologe an der Pennsylvania State University. „Diese Impfstoffe sind gut.“

Einige Varianten scheinen zwar tatsächlich besser in der Lage zu sein, unserem Immunsystem auszuweichen, allerdings hauptsächlich in Laborexperimenten. So zeigte eine kleine, Anfang Mai veröffentlichte Preprint-Studie, die noch keinen Gutachter-Prozess durchlaufen hat, dass die indische Variante B.1.617.2 resistenter gegen Antikörper von Menschen ist, die geimpft oder zuvor infiziert wurden. Trotzdem produzierten alle 25 Personen, die mit den Moderna- oder Biontech-Pfizer-Impfstoff erhalten hatten, genügend neutralisierende Antikörper.

Britische Forscher meldeten Ende Mai in einer bisher ebenfalls nur als Preprint erschienenen Studie neue Wirksamkeitsdaten gegen B.1.617.2 aus Indien. Der Schutz zweier Biontech-Pfizer-Impfdosen betrug 87,9 Prozent und die zweier AstraZeneca-Dosen 59,8 Prozent. Vor der britischen B.1.1.7-Variante schützen sie etwas besser zu 93,4 Prozent (Biontech-Pfizer) und 66,1 Prozent (AstraZeneca). Nach einer Dosis schützten aber beide Impfstoffe nur zu etwa 33,5 Prozent gegen die neue Sorgenvariante, im Vergleich zu 51,1 Prozent Wirksamkeit gegen B.1.1.7 aus Großbritannien.

Wissenschaftler, die die Wirksamkeit von Impfstoffen testen, konzentrieren sich häufig auf Antikörper und ihre Fähigkeit, das Virus daran zu hindern, Zellen zu infizieren. In Laborexperimenten mischen sie Blut von genesenen oder geimpften Personen mit Zellen, um festzustellen, ob Antikörper im Blut das Virus neutralisieren können. Aber Antikörper sind „nur ein sehr enger Ausschnitt aus der Immunantwort“ des Körpers, sagt Jennifer Dowd, Epidemiologin und Demografin an der Universität von Oxford.

Auch die T-Zellen genannten Immunzellen helfen dabei, Infektionen in Schach zu halten. Diese Zellen können das Virus zwar nicht neutralisieren, dafür suchen und zerstören sie infizierte Zellen. Das schützt vor schweren Krankheiten. Daten von Personen mit COVID-19 legen nahe, dass die T-Zell-Antwort genesener und geimpfter Personen einen ausreichenden Schutz gegen die meisten SARS-CoV-2-Varianten bieten sollte.

Ein Impfstoff, der eine Infektion komplett unterbinden kann, ist wunderbar. „Das Wichtigste ist jedoch, die Menschen aus den Krankenhäusern fernzuhalten“, sagt Friedrich. Es gibt gute Beweise dafür, dass die aktuellen Impfstoffe genau das tun. In Südafrika bot laut einer NEJM-Studie eine Dosis des Johnson & Johnson-Impfstoffs einen 85-prozentigen Schutz gegen Krankenhausaufenthalte und Todesfälle durch COVID-19. Zu diesem Zeitpunkt wurden bereits 95 Prozent der Fälle durch die lokale B.1.351-Variante verursacht. In Israel, wo der britische B.1.1.7-Stamm der dominierende Stamm geworden war, boten zwei Biontech-Pfizer-Dosen einen 97-prozentigen Schutz gegen einen symptomatischen COVID-19-Verlauf und Krankenhausaufenthalte im Zusammenhang mit COVID-19. Ob die Impfstoffe schwere Verläufe bei der indischen Variante weniger gut verhindern, lässt sich derzeit noch nicht abschließend sagen.

Sobald das Virus in eine Zelle eindringt, beginnt es sich zu replizieren. Je mehr Kopien entstehen, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass zufällige Fehler oder Mutationen auftreten. Die meisten dieser Kopierfehler sind nicht relevant. Eine Handvoll könnte dem Virus jedoch einen Vorteil verschaffen. Beispielsweise scheint eine als D614G bekannte Spike-Protein-Mutation die Übertragung von SARS-CoV-2 zu verbessern. E484K wiederum könnte dem Virus helfen, sich der Antikörperantwort des Körpers zu entziehen.

Wenn Viren mit diesen vorteilhaften Mutationen von einer Person zur nächsten gelangen, können sie beginnen, die anderen Viren ohne diese Veränderungen zu übertreffen. Dieser Prozess ist als natürliche Selektion bekannt und steckt hinter der großflächigen Ausbreitung der leichter übertragbaren B.1.1.7-Variante in den USA, die damit zur vorherrschenden Variante wurde.

Im Fall von SARS-CoV-2 tauchen die Mutationen, die das Virus verbessern, in verschiedenen Teilen der Welt auf. Das Phänomen heißt konvergente Evolution. „Wir sehen, dass sich immer wieder dieselben Kombinationen entwickeln“, sagt Vaughn Cooper, Evolutionsbiologe an der Universität von Pittsburgh. Stellen Sie sich eine Partie Tetris vor, schreibt Cooper in einem kürzlich erschienenen Artikel für Scientific American. „Eine begrenzte Anzahl von Bausteinen kann auf unterschiedliche Weise und in unterschiedlichen Kombinationen zusammengesetzt werden, um die gleichen Gewinnstrukturen zu erzielen.“

Cooper und einige andere Forscher sehen diesen Beweis für eine konvergente Evolution als ein hoffnungsvolles Zeichen: Dem Virus gehen möglicherweise neue Möglichkeiten zur Anpassung an die aktuelle Umgebung aus.

Irgendwann werden die derzeitigen Impfstoffe weniger wirksam. „Das steht zu erwarten“, sagt Chandran, aber es würde allmählich geschehen: „Es wird eine Zeit für Impfstoffe der nächsten Generation geben.“ Moderna hat bereits damit begonnen, die Wirksamkeit eines Auffrisch-Schusses gegen die erstmals in Südafrika identifizierte B.1.351-Variante zu testen. Letzte Woche hat das Unternehmen die ersten Ergebnisse veröffentlicht. Eine dritte Dosis der aktuellen COVID-19-Spritze oder eines B.1.351-spezifischen Boosters erhöhte den Schutz gegen die erstmals in Südafrika und Brasilien identifizierten Varianten. Der neue variantenspezifische Booster löste jedoch eine stärkere Immunantwort gegen B.1.351 aus als die dritte Dosis des ursprünglichen Impfstoffes.

Das ist aus mehreren Gründen eine Erleichterung. Zunächst zeigt es, dass variantenspezifische Booster funktionieren können. „Ich denke, die Machbarkeit dieser RNA-basierten Impfstoffe zur Herstellung von Boostern ist die Errungenschaft unseres Lebens“ , sagt Cooper.

(vsz)