Zahlen, bitte! 18 Millionen für den guten Geschmack

Der Hersteller einer Würzflüssigkeit legte einen Grundstein für den Aufbau der Lebensmittelindustrie; Maggi verströmt nun aber auch den Geruch der Zukunft.

In Pocket speichern vorlesen Druckansicht 43 Kommentare lesen
Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Detlef Borchers
Inhaltsverzeichnis

Heute vor 135 Jahren wurden in der Schweiz die ersten Liter einer Würzflüssigkeit gebraut, die zunächst "Bouillon Extract" hieß. Der Mühlenbesitzer Julius Maggi suchte nach einer Möglichkeit, seine Suppen aus Leguminosen-Mehl geschmacklich zu verbessern. Die Maggi-Würze, das "gewisse Tröpfchen etwas", ermöglichte Maggi mit 22 verschiedenen Fertigsuppen den Einstieg in die industrielle Lebensmittelproduktion. Er wurde der größte Gutsbesitzer der Schweiz und ließ, unterstützt vom gerade erfundenen Kunstdünger, überall Hülsenfrüchte anbauen.

Zahlen, bitte!

In dieser Rubrik stellen wir immer dienstags verblüffende, beeindruckende, informative und witzige Zahlen aus den Bereichen IT, Wissenschaft, Kunst, Wirtschaft, Politik und natürlich der Mathematik vor.

Mit den Leguminosen-Mehlen von Julius Maggi, dem Kindermehl (Babymilchpulver) von Henri Nestlé und der Kondensmilch der Gebrüder Page konnten die Industriearbeiterfamilien gesättigt, die Kindersterblichkeit gesenkt werden. Besonders wichtig war, dass das zeitaufwendige Kochen entfiel. Man hatte ja die Würze in dem von Maggi selbst entworfenen Gütterli (Fläschchen), um den Geschmack zu verbessern.

In dieser Kolumne ist von den Zahlen und Orten die Rede gewesen, die Geschichte machten, etwa die 30 Meter der ersten industriellen Revolution oder den Ausbau der Grundlagenforschung für die zweite industrielle Revolution. Der Aufbau einer Lebensmittelindustrie gehört dazu. Der Arzt und eidgenössische Fabrikinspektor Fridolin Schuler schrieb: "Der Fabrikarbeiter bedarf mithin einer leichter verdaulichen Nahrung als die meisten anderen Arbeiter, für ihn passt nicht die Kost des Bauern. Was dem Fabrikarbeiter Not tut, sind verhältnismäßig reichere Albuminate animalischer Abstammung, sei es in Form von Fleisch, der wünschbarsten, sei es in derjenigen von Milch oder Molkereiprodukten."

Schuler beriet den Getreidemühlenbesitzer Julius Maggi, wie er Albuminate (Eiweiße) in Form von energiehaltigen Hülsenfrüchten als Fertigprodukt erzeugen konnte. Er entwickelte mit ihm zusammen die Maggi-Würze auf der Basis von Pflanzeneiweiß. "Bei der Herstellung wird dieses in seine Bausteine – die Aminosäuren – zerlegt und das charakteristische Aroma der Würze entsteht", heißt es lapidar bei Maggi, wenn man nach dem Rezept der Soße fragt, von der jährlich zwischen 18 und 19 Millionen Flaschen verkauft werden.

Zur Erfolgsgeschichte von Maggi gehört nicht nur die Würze, sondern auch die Werbung und der ausgefeilte Vertrieb. Die Würze wurde zunächst im Stammwerk in Kemptthal gebraut und in große Kanister abgefüllt, ehe sie nach Deutschland zum Eisenbahnknotenpunkt Singen exportiert wurde. Damit umging man den hohen Zoll, mit dem Flaschen belegt waren. Erst in Singen wurde die "Würze im Leben" in die Gütterli (alemannisch für Fläschchen) umgefüllt.

Parallel dazu baute Julius Maggi eine Werbeabteilung auf. Sie sollte dafür sorgen, das "Madschi" – wie der Name korrekt ausgesprochen wird – für gesundes Essen nach den Erkenntnissen der modernen Ernährungswissenschaft steht. Manchmal auch für mehr: Als Texter stellte man den Hannoveraner Frank Wedekind an und der legte radebrechend los: "Vater, mein Vater! Ich werde nicht Soldat, dieweil man bei der Infanterie nicht Maggi-Suppen hat!"

Ein anderer Künstler wurde Soldat, war bei der Luftwaffe und hob später die Maggi-Würze in den Pantheon der Schönen Künste. In seinem Multiple "Ich kenne kein Weekend" montierte Beuys ein Fläschchen Maggi in einem Diplomatenkoffer – Seite an Seite mit einem Exemplar von der "Kritik der reinen Vernunft" von Immanuel Kant.

Neben den Suppen und der Würze erfand Julius Maggi noch den Brühwürfel, für den er als Aushängeschild den französischen Starkoch Auguste Escoffier engagierte. In Frankreich expandierte er in Vertrieb von pasteurisierter Milch. In den Maggi-Werken in der Schweiz, Frankreich und Deutschland etablierte er das Kantinenessen, eine Betriebskrankenkasse und gewährte bezahlten Urlaub.

Die Industriearbeiterschaft hat es Maggi gedankt: Noch heute liegt der Verbrauch der Maggi-Würze in den ehemaligen Bergbaugebieten Saarland und Ruhrgebiet weit über dem Durchschnitt, wie es im saarländischen Adventskranz persifliert wird. Doch der weitaus größte Absatzmarkt vom Unternehmen Maggi, das inzwischen zum Nestlé-Konzern gehört, ist Afrika geworden. 120 Millionen Maggi-Würfel wandern an einem Tag in die Kochtöpfe.

Was mit der Umstellung der Getreidemühle von Julius Maggi auf eine Leguminosen-Mühle in der industriellen Revolution begann, könnte in der Dekarbonisierungs-Revolution zum Klimawandel fortgesetzt werden. Schließlich sollen nach Ansicht vieler Umweltexperten vegane Speisen möglichst viel der umweltschädlichen Fleisch-, Fisch- und Futtermittel-Produktion ersetzen. Wie wäre es mit veganen Lachsscheiben aus dem 3D-Drucker, die auf der Basis von Erbsenproteinen erzeugt werden?

(axk)