Schönheitsfilter: Wie TikTok ungefragt Gesichter veränderte

Das soziale Netzwerk aktivierte bei einigen Influencern automatisch einen Schönheitsfilter, den sie nicht eingestellt hatten – und nicht deaktivieren konnten.​

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Streit um Tiktok in Pakistan

Die Kurzvideo-App TikTok.

(Bild: dpa, Jens Kalaene/dpa-Zentralbild/dpa)

Lesezeit: 5 Min.
Von
  • Abby Ohlheiser
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„Das ist nicht mein Gesicht“, dachte Tori Dawn, als sie vor einigen Wochen TikTok öffnete, um ein Video zu erstellen. Der auf dem Bildschirm reflektierte Kiefer war falsch, sah schlanker und weiblicher aus. Und als sie mit der Hand vor der Kamera wedelte und den größten Teil ihres Gesichts vom Objektiv abschirmte, schien ihr Kiefer wieder normal auszusehen. Und auch die Haut so ungewöhnlich weich aus.

Bei näherer Betrachtung schien es, als würde das Bild durch einen Schönheitsfilter in der TikTok-App laufen. Normalerweise schaltet Dawn solche Filter in Livestreams und Videos für ihre rund 320.000 Follower allerdings aus. Doch auch ein Ausflug in die zahllosen Einstellungen der App ergab keine Möglichkeit, den neuen Effekt zu deaktivieren. Er schien dauerhaft aktiv zu sein und Dawns Gesichtszüge auf subtile Weise zu feminisieren. „Mein Gesicht ist ziemlich androgyn und ich mag das so, wie meine Kinnpartie aussieht“, sagt die Influencerin. „Als ich sah, wie der Effekt mit dem Handtrick vor- und zurücksprang, dachte ich: Warum tun die das?“

Schönheitsfilter sind längst zum festen Bestandteil des Online-Lebens geworden und ermöglichen es Benutzern, ihr Gesicht zu verändern, bevor sie es der Welt in den sozialen Medien präsentieren. Filter können unter anderem Augen weiten, Lippen aufpolstern, virtuelles Make-up auftragen und die Gesichtsform verändern. Aber die Entscheidung wird Benutzern normalerweise nicht aufgezwungen. Deshalb waren Dawn und andere, die auf den seltsamen neuen TikTok-Effekt stießen, so wütend und verstört.

Dawn erzählte ihren Followern in einem Video davon und zeigte den Effekt auf dem Bildschirm: „Ich fühle mich nicht wohl, Videos zu machen, weil ich nicht so aussehe und ich nicht weiß, wie ich das abstellen kann.“ Das Video erhielt mehr als 300.000 Aufrufe und wurde von anderen Benutzern geteilt, die dasselbe bemerkt hatten. „Sehe ich in letzter Zeit deshalb wie ein Alien aus?" fragte eine Nutzerin. „TikTok, bring das in Ordnung!" forderte eine andere.

Videos wie diese kursierten schließlich tagelang, als ein Teil der TikTok-Benutzer in die Kamera schaute und ein Gesicht sah, das nicht ihr eigenes war. Während sich die Videos verbreiteten, fragten sich viele Benutzer, ob das Unternehmen heimlich einen Schönheitsfilter an einigen Benutzern testete.

Die Autorin dieses Beitrags entschied sich, den Effekt selst zu testen. Als sie anfing, ein Video zu machen, war die Veränderung der Kieferform gleich offensichtlich. Auch die Haut schien geglättet zu sein. Eine Nachfrage bei Freunden, Kollegen und Twitter-Followern ergab, dass der Effekt wohl nur bei Android-Handys auftrat. Nach einer Presseanfrage bei TikTok verschwand der Effekt plötzlich zwei Tage später. Das Unternehmen räumte schließlich in einer kurzen Erklärung ein, dass man einen Fehler behoben habe, wollte jedoch keine weiteren Angaben dazu machen.

Oberflächlich gesehen war es ein seltsames, vorübergehendes Problem, das nur einige Benutzer betraf. Aber es veränderte ungefragt das Aussehen von Menschen. Das ist ein maßgeblicher Ausrutscher für eine App, die allein in den USA rund 100 Millionen und in Deutschland 2,4 Millionen Menschen verwenden.

Amy Niu, Doktorandin an der University of Wisconsin, die die psychologische Wirkung von Schönheitsfiltern untersucht, glaubt, dass der ungeliebte Filter wohl aus TikToks Heimat China stammte. Dort und in anderen Regionen werden einigen Apps standardmäßig subtile Schönheitsfilter hinzugefügt, die die Nutzer gar nicht bemerken. Wenn Niu solche Programme verwendet, kann sie nur dann wirklich erkennen, dass ein Filter aktiv ist, indem sie ein Foto von sich selbst aus der Kamera-Anwendung ihres Handys mit dem in der jeweiligen App produzierten Bild vergleicht.

Vor ein paar Monaten hat sie die chinesische Version von TikTok namens Douyin heruntergeladen. „Wenn ich den Beauty-Modus und die Filter deaktiviert habe, konnte ich immer noch eine Anpassung meines Gesichts sehen“, sagt sie. Schönheitsfilter in einer App zu haben sei nicht unbedingt eine schlechte Sache,meint Niu.

Aber App-Designer trügen eine Verantwortung dafür, wie diese Filter verwendet werden und wie sie die Nutzer beeinflussten. Selbst wenn es sich um einen vorübergehenden Fehler handelt, könnte er einen Einfluss darauf haben, wie die Leute sich selbst wahrnehmen. Die Verinnerlichung bestimmter Schönheitsideale, die Festlegung auf ein spezifisches Körperbild oder die Sorge um das eigene Aussehen, die allesamt verstärkt werden könnten – das sind die laut Niu größten Probleme.

Für Dawn war der seltsame Gesichtseffekt nur ein weiterer Punkt auf einer langen Liste von TikTok-Frustrationen: „Es erinnert sehr an eine Beziehung mit einem malignen Narzissten, weil sie dich in einer Minute mit Liebe überschütten, Dir all diese Follower und Aufmerksamkeit geben.“ Dann fühle es sich so gut an. „Und dann sagen sie aus irgendeinem Grund einfach, wir nehmen Dir das jetzt alles weg."

(vsz)