Wie Tokio infektionsarme Olympische Spiele veranstalten will

Corona-Infektionen bei Olympia in Japan sind unvermeidlich. Die Spiele finden trotzdem statt. Die Organisatoren hoffen, eine neue Welle zu verhindern.

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(Bild: Erik Zünder / Unsplash)

Lesezeit: 9 Min.
Von
  • Mia Sato
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Es ist Nacht auf den Straßen der Präfektur Ibaraki in Japan, als die olympische Fackel vorbeizieht. Ein virales Video zeigt, wie der Fackelträger langsam an den Zuschauern vorbeijoggt, die die Straße säumen. Dann, als die Flamme an ihr vorbeizieht, schießt plötzlich eine Frau aus der Menge eine Wasserpistole ab. "Löscht die olympische Flamme aus! Widersetzt euch den Olympischen Spielen in Tokio!", brüllt sie. Sicherheitskräfte eilen heran.

So stellt er sich dar, der Hintergrund für die am 23. Juli beginnenden olympischen und paralympischen Sommerspiele in der japanischen Hauptstadt. Obwohl die Zahl der COVID-19-Fälle steigt, sollen sie abgehalten werden. Die Metropole befindet sich mitten im vierten Ausnahmezustand seit Beginn der Pandemie. Die steigende Zahl der Fälle ist besonders besorgniserregend, weil die Impfrate im Land niedrig bleibt. Nur 18 Prozent der japanischen Bevölkerung sind inzwischen vollständig geimpft. Trotzdem machte das Internationale Olympische Komitee IOC weiter Druck. Auf dem Spiel stehen gigantische Summen – allein das Olympiastadion in Tokio hat 1,2 Milliarden Euro gekostet – sowie weitere Milliarden an potenziellen Einnahmen für das IOC, Japan, lokale Organisatoren und die Fernsehsender.

Eine globale Gesundheitskrise, die noch lange nicht vorbei ist, eine schwindelerregende Menge an Geld und eine Regierung, die darauf aus ist, dass sich dieses Glücksspiel auszahlt: Die Kräfte, die in Tokio aufeinandertreffen, sind beispiellos. Und selbst mit den geplanten strengen neuen Regeln bei den Spielen befürchten Experten, dass sich COVID-19 in Japan verschlimmern könnte. Tatsächlich gibt es bereits erste Infizierte im olympischen Dorf.

Fast 100.000 Athleten, Mitarbeiter, ihre Familienmitglieder und andere beteiligte Personen werden zu den olympischen und paralympischen Spielen in Japan erwartet – und die Organisatoren betonen, ihr Bestes zu tun, um für ihre Sicherheit zu sorgen. Brian McCloskey, Vorsitzender eines unabhängigen Gremiums, das das IOC bei den Maßnahmen zur Eindämmung von COVID-19 in Tokio berät, gibt zu, dass es Bedenken gibt. Um das Risiko einer Ausbreitung des Virus zu verringern, würden Athleten, Personal und andere Personen genau überwacht. "Das Ziel ist nicht, dass es in Tokio keine Coronavirus-Fälle gibt", sagt McCloskey. "Das Ziel ist es, zu verhindern, dass diese einzelnen Fälle zu Clustern werden und sich ausbreiten."

Athleten, Personal und Offizielle werden während der Spiele in bestimmten Abständen getestet. Die Bewohner des olympischen Dorfes bekommen zum Beispiel täglich einen Corona-Test. Dann gibt es weitere Abstufungen. Japanische Mitarbeiter, die in engen Kontakt mit den Athleten kommen, werden etwa häufiger getestet als solche Personen, die nur den Verkehr regeln. McCloskey sagt, dass im olympischen Dorf ein System zur Nachverfolgung von Kontakten eingesetzt wird, um mögliche Fälle schnell einzudämmen. Jeder, der nach Japan einreist, müsse eine App zur Kontaktverfolgung herunterladen und die Athleten und Medienvertreter werden gebeten, die GPS-Ortung auf ihren Telefonen zu aktivieren. Die Organisatoren betonen, dass die Standortdaten nur dann verwendet werden, wenn es Fälle von COVID-19 gibt.

Je näher die Spiele rückten, desto strenger wurden die Maßnahmen. Zuschauer aus anderen Ländern wurden schon vor Monaten ausgesperrt. Und Anfang des Monats wurde bekannt gegeben, dass es an den Veranstaltungsorten in und um Tokio überhaupt keine Zuschauer geben wird, auch nicht aus der einheimischen Bevölkerung. McCloskey sagt, dass es tatsächlich einen Präzedenzfall für die Durchführung von Spielen inmitten einer öffentlichen Gesundheitskrise gibt – auch wenn frühere Olympiaden nicht von einer derartig großen Pandemie wie COVID-19 bedroht waren. Als er das IOC für die Olympischen Spiele 2012 in London beriet, zogen die Organisatoren das Potenzial einer SARS-Pandemie in Betracht, sagt er. Und vor den Spielen 2016 in Rio De Janeiro, Brasilien, gab es Bedenken wegen Zika (die WHO gab später bekannt, dass es keine gemeldeten Fälle bei Athleten oder Zuschauern gab).

Für Tokio hat das IOC mehrere "Playbooks" mit Anweisungen für Athleten, Mitarbeiter, Freiwillige und die Presse herausgegeben. Aber trotz der strengen Regeln werden die Spiele unweigerlich dazu führen, dass sich Menschen vermischen und auf eine Art und Weise interagieren, wie es sonst nicht der Fall wäre, gerade im Ausnahmezustand wie jetzt in Tokio. Schon Wochen vor der Eröffnungszeremonie wurden erste Fälle gemeldet. "Es ist nicht nur die Veranstaltung selbst", sagt Linsey Marr, Professorin für Bau- und Umwelttechnik an der Virginia-Tech-Hochschule, die als führende Expertin für die Übertragung von Viren durch die Luft gilt. "Es ist alles andere, was mit der Veranstaltung zusammenhängt: die Hotels, die Restaurants, die Transportmittel."

Obwohl Masken und Social Distancing in den IOC-Regelwerken betont werden, weist Marr auf die Mahlzeiten als einen Bereich hin, in dem die Richtlinien nicht mit dem Stand Wissenschaft übereinstimmten. Das IOC meint etwa, dass es ausreicht, die Sitzplatzkapazität in den Speisesälen des olympischen Dorfes zu verringern, Infos zu einer möglichen Überfüllung über eine App bereitzustellen und Kunststoffbarrieren zwischen den Sitzen aufstellt. "Es hat schon viele Ausbrüche in Restaurants mit solchen Plastiktrennern gegeben", sagt sie. "Das Beste, was sie tun könnten, wäre, dass sie es nur noch einen Lieferdienst gibt."

Andere Experten sagen, dass die Olympischen Spiele trotz aller Bemühungen einen Ripple-Effekt auf die COVID-19-Fälle in Japan haben könnten. Obwohl in der Hauptstadt der Ausnahmezustand verhängt wurde, bedeutet das nicht, dass alle Schulen, Restaurants und andere öffentliche Einrichtungen geschlossen werden. Stattdessen ist es im Wesentlichen eine Aufforderung an die Menschen, unnötige Reisen zu vermeiden. Es gibt keine Strafen oder Durchsetzungsmechanismen, wie man sie von Lockdowns in Europa kennt. "Es ist die eine Sache, wenn ein Land einen Anstieg der Infektionen aufgrund alltäglicher Begegnungen durchmacht", sagt Shihoko Goto, stellvertretende Direktorin für Geo-Ökonomie am Wilson Center, einer Denkfabrik in Washington, DC. "Es ist die andere, wenn man weiß, dass man ein enormes Risiko eingeht, wenn man Veranstaltungen im großen Stil durchführt, die die Menschen innerhalb des Landes dazu ermutigen, sich zu versammeln." Das gelte auch für die Ankunft von Menschen aus Übersee.

Mehr und mehr Menschen in Japan – wie die Demonstrantin mit der Wasserpistole – wehren sich gegen das Abhalten der Spiele. Im Mai, als die Zahl der COVID-19-Fälle bereits stieg, veröffentlichte eine Gruppe von 6.000 Tokioter Ärzten einen offenen Brief, in dem sie die Absage der Olympischen Spiele forderten, da das medizinische System der Stadt den Zustrom von Patienten nicht bewältigen könne. Einige Umfragen zeigen, dass mehr als 80 Prozent der Japaner die Spiele überhaupt nicht wollen. Hitoshi Oshitani ist Professor für Virologie an der Tohoku Universität. Er hat die "drei Cs" für das Land entwickelt: geschlossene Räume, Menschenmengen und enge Kontakte vermeiden ("closed spaces, crowds, close contacts"). Er sagt, dass die Durchführung der Spiele in der Hauptstadt besonders riskant sei: "Bei allen vorherigen Wellen hat sich das Virus ohne Ausnahme von Tokio aus in andere Teile des Landes verbreitet."

Oshitani merkt an, dass Zuschauer zwar in Tokio und den benachbarten Präfekturen verboten sind, an anderen Austragungsorten in Miyagi und Shizuoka aber durchaus zugelassen werden – einschließlich der Mitarbeiter und Freiwilligen, die aus Tokio kommen. Obwohl das IOC nicht vorschreibt, dass Olympia-Reisende geimpft sein müssen, sagt McCloskey, dass er – auf der Grundlage der Daten der olympischen Komitees der einzelnen Länder – erwartet, dass 85 Prozent der Delegationsmitglieder geimpft sein werden. Aber die niedrige Impfrate Japans gibt Anlass zur Sorge. Das Impfprogramm lag monatelang brach, während andere Länder schon Impfungen verabreichten. Oshitani sagt, dass viele ältere Menschen immer noch nicht ihre zweite Dosis erhalten haben. Das schafft Bedingungen, unter denen sich das Virus ausbreiten kann. "Wir beobachten eine steigende Anzahl von schweren Fällen bei 40- und 50-Jährigen in Tokio, und die meisten von ihnen sind nicht vollständig geimpft", sagt Oshitani.

Warum also die Spiele überhaupt ausrichten? Warum keine Absage? Eine Analyse des britischen Senders BBC analysiert die Stornierungsklausel im Vertrag zwischen dem IOC und Tokio und zeigt, dass eigentlich nur das IOC die Möglichkeit hat, die Spiele abzusagen (obwohl Japan theoretisch den Vertrag brechen könnte). Neben dem potenziellen Geldverlust geht es auch darum, ein bestimmtes Image in der Welt zu projizieren. Goto vom Wilson Center sagt, dass Japan in "Soft Power" investiert. Man will der Menschheit zeigen, dass man die größte internationale Veranstaltung nach dem Beginn der Pandemie durchführen kann. Eine erfolgreiche Olympiade wäre außerdem ein Segen für die regierende Liberaldemokratische Partei für die kommenden Wahlen in diesem Jahr. Ignoriert wird dabei, was für eine Belastung Olympia für die Gastgeberstädte ist, mit oder ohne Pandemie. Da die Augen der Welt auf die Spiele in Tokio gerichtet sind, fragt sich Goto, ob der Enthusiasmus für die Austragung der Olympischen Spiele in den kommenden Jahren nachlassen wird. Entwicklungsländer werden die Spiele wahrscheinlich immer noch als Gelegenheit sehen, sich zu präsentieren, aber westliche Länder könnten zögerlicher sein.

Die Originalversion dieses Artikels ist Teil des Pandemic Technology Project, das von der Rockefeller Foundation unterstützt wird.

(bsc)