Polen plant Einstieg in Atomkraft

Neue Atomkraftwerke in der Nähe der Ostsee sollen Polen beim Ausstieg aus der Kohle helfen. Die Pläne werden in Deutschland mit Unbehagen verfolgt.

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Ruine des in den 1980er Jahren gebauten, dann verworfenen AKW Zarnowiec.

(Bild: Jersz (Wikimedia, CC BY-SA 2.5))

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Polens nationalkonservative PiS-Regierung plant den massiven Einstieg in die Atomenergie – in Deutschland wird das mit Sorge verfolgt. Die beiden favorisierten Standorte liegen in der Nähe der Ostsee: Zarnowiec und Lubiatowo-Kopalino, beide gut 70 Kilometer von Danzig und 450 Kilometer von Berlin entfernt.

Spätestens 2026 soll mit dem Bau des ersten Reaktorblocks begonnen werden, der 2033 ans Netz gehen soll, heißt es in dem im Februar vorgelegten Strategiepapier "Polens Energiepolitik bis 2040". Bis zum Jahr 2043 sollen fünf weitere Reaktorblöcke folgen. Die Atomkraftwerke sollen Polen beim Ausstieg aus der Kohle helfen – gegenwärtig gewinnt das Land fast 80 Prozent seiner Energie aus Steinkohle und Braunkohle.

"Die Beispiele von hoch industrialisierten und hoch entwickelten Ländern und Regionen wie Frankreich, Schweden und der kanadischen Provinz Ontario beweisen, dass die Atomenergie zur effizienten, schnellen und tiefgreifenden Dekarbonisierung der Elektroenergetik beiträgt", wirbt die Regierung in einem weiteren Papier von 2020 zu ihrer Atompolitik. AKW seien die "billigste Energiequelle unter Berücksichtigung der Gesamtkostenbilanz und der Betriebszeit" und könnten die "energetische Sicherheit des Landes" absichern.

Bereits 2009 hatte die polnische Regierung ihre Prioritäten in einem Dokument namens "Diversifizierung der Stromherstellungsstruktur durch die Einführung von Kernenergie" festgehalten, geht aus einem Programm von 2011 hervor. Die polnische Regierung sieht die AKW-Katastrophen von Tschernobyl im Jahr 1986 und Fukushima 2011 als nicht repräsentativ an. In Polen sollen ausschließlich die modernsten und sichersten kommerziell verfügbaren Techniken der Atomenergie eingesetzt werden. Auch gebe es an den potenziellen Standorten keine externe Gefahren.

Im Oktober 2020 schloss Polen bereits ein Abkommen mit den USA über nukleare Zusammenarbeit. Der US-Konzern Westinghouse soll an den Modellstudien beteiligt werden.

Laut einer aktuellen Umfrage lehnen 45 Prozent der Polen den Bau von Atomkraftwerken ab, 39 Prozent sind dafür. Trotzdem gebe es in der Region um Danzig bislang keine Organisation, die gegen die AKW-Pläne mobil mache, sagt der grüne polnische Abgeordnete Tomasz Anisko.

Dafür wächst das Unbehagen in Deutschland. Polens Pläne seien "rückwärtsgewandt", sagt Sylvia Kotting-Uhl, atompolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion. "Die polnische Entscheidung ist ökonomisch nicht klug und nimmt Risiken auf sich, die heute völlig überflüssig sind." Ein Anfang des Jahres erstelltes Gutachten, das ihre Fraktion bei fünf renommierten Umwelt- und Nuklearexperten, unter anderem von der Universität Genf, in Auftrag gegeben hat, kommt zu dem Schluss: Bei einem Unfall in einem polnischen AKW wäre Deutschland bei Betrachtung aller Wind- und Wettermöglichkeiten mit einer Wahrscheinlichkeit von 20 Prozent betroffen. "Im schlimmsten Fall wären 1,8 Millionen Deutsche einer Strahlung ausgesetzt, bei der evakuiert wird", sagt Kotting-Uhl.

Auch die Bundesregierung hat reagiert. Ende März schickte sie der Regierung in Warschau eine Stellungnahme mit vielen offenen Fragen zum polnischen Energieprogramm 2040. Berlin fordert, in die AKW-Planung eingebunden zu werden, weil potenziell erhebliche negative grenzüberschreitende Umweltauswirkungen auf Deutschland nicht ausgeschlossen werden könnten, heißt es darin. Auch stamme die Umweltverträglichkeitsprüfung für die AKW-Standorte aus dem Jahr 2010 und sei veraltet. Ungeklärte Fragen aus deutscher Sicht betreffen zudem den Aufbau einer polnischen Atomaufsichtsbehörde sowie die Zwischen- und Endlager für verbrauchte Brennelemente.

Polen verwies bisher darauf, dass es zu Zeiten des früheren Anlaufs zur Atomkraft in den 1990er-Jahren bereits Erkundungen für ein Endlager gegeben habe. Dabei seien 44 Felsstrukturen identifiziert worden, in denen ein Tiefenendlager für radioaktive Abfälle potenziell angelegt werden könnte. Dabei handele es sich um Erstarrungs- und metamorphes Gestein, tonhaltige Gebilde und Salzablagerungen. "Da diese Untersuchungen vor über zehn Jahren durchgeführt wurden, können sie nicht als Grundlage für die Entscheidungsfindung herangezogen werden", hieß es in einem Papier der polnischen Regierung von 2014. Polen verfüge aber über Kenntnisse, die auf die Möglichkeit der Entsorgung abgebrannter Brennelemente und radioaktiver Abfälle auf seinem Gebiet hinweisen.

Zum weiteren Verlauf des Dialogs mit dem Nachbarland gibt sich das Bundeswirtschaftsministerium zugeknöpft. "Mit Rücksicht auf die bilaterale Zusammenarbeit" wolle sie keine Einzelheiten zur Kommunikation mit der polnischen Regierung nennen, teilte eine Sprecherin dpa mit. Im Warschauer Ministerium für Klima und Umwelt heißt es dazu lediglich, es habe Anfang Mai auf die Fragen der Bundesregierung geantwortet und auf Beschlüsse der polnischen Regierung verwiesen.

In Zarnowiec, nur wenige Kilometer von der Ostseeküste entfernt, sollte bereits in kommunistischer Zeit Polens erstes Atomkraftwerk entstehen. Heute wirkt die riesige Bauruine wie das Symbol einer gescheiterten Epoche: Rostige Stahlgitter ragen aus verwitterten Betonklötzen, an der Plattform eines Metallmasts hängen noch Flutlichter. Der in den 80er-Jahren begonnene Bau des Prestige-Projekts wurde 1990 aufgeben. Denn auch in Polen wuchs nach der Katastrophe von Tschernobyl 1986 der Widerstand gegen die Atomkraft.

(anw)