Was das liberalste Deutschland, das es je gab, alles nicht aushält

SEK-Beamte während des G20-Gipfels. Bild: t-h-s / CC-BY-2.0

Polizeigesetze, Versammlungs- und Pressefreiheit, Staatstrojaner …

Die öffentliche Meinung in Deutschland ist sich weitgehend einig, dass es in dieser Welt indiskutabel repressive und autoritäre "Regime" gibt: Nordkorea und China zählen mit Sicherheit dazu, auch Putins Russland und die Mullahs im Iran.

Und wenn man auch nicht so sehr viel weiß über diese Länder, ist man sich sicher: In diesen Ländern wird die Meinungs- und Pressefreiheit mit Füßen getreten, es herrschen Zensur und allgegenwärtige staatliche Überwachung, Proteste und Demonstrationen, so es sie überhaupt gibt, werden niedergeschlagen, Teilnehmer und Aktivisten mit übelsten Polizeistaat-Methoden behandelt.

Warum ist das so? Die gängige Antwort lautet: Die dort regierenden Politiker haben keinen Respekt vor den Menschenrechten. Sie setzen den Machterhalt ihrer "Regime", ob über Schein-Wahlen legitimiert oder nicht, über alles. Die deutsche Öffentlichkeit, ob Bürger oder Journalisten, verachten solche Staatswesen deshalb unisono.

Diese Verachtung begründet man damit, dass es "bei uns" ganz anders zugeht. Hier in Deutschland sind Meinungs- und Pressefreiheit grundgesetzlich garantiert. Unsere Verfassung erlaubt Versammlungen und Demonstrationen. Als Lehre aus dem "Bösen" des Nazi-Staats werden hohe rechtliche Ansprüche angelegt, wenn staatliche Exekutiv-Organe in diese Rechte eingreifen wollen.

Geheime Dienste, die "natürlich" auch das liberale Deutschland unterhält, um nach eigener Darstellung all diese Freiheiten gegen Gefahren von außen und innen zu schützen, stehen unter der Kontrolle des Parlaments und machen ihre Resultate teilweise sogar öffentlich, in einem jährlichen "Verfassungsschutzbericht" etwa.

So ungefähr sieht das populäre Bild von der heutigen Staatenwelt aus.

Seltsames im Land der Guten und Freien

Schaut man – als in diesem Sinne politisch gebildeter Bürger oder von Sowi-Lehrern mit dem eigenen Staatswesen vertraut gemachte Schülerin – auf einige Ereignisse und Gesetzesvorhaben der letzten Zeit, müsste man eigentlich ins Grübeln geraten:

  1. Der Chefredakteur einer angesehenen Online-Zeitung wird von Nato- und EU-Ausschüssen der Desinformation bezichtigt.
  2. Die einzige linke Tageszeitung Deutschlands soll laut Bundesregierung finanziell in die Enge getrieben werden.
  3. Der deutsche Verfassungsschutz darf die Kommunikation seiner Bürger in den Messenger-Diensten mittels Staatstrojaner mitlesen.
  4. Das Demonstrationsrecht im größten deutschen Bundesland soll massiv verschärft werden.
  5. Eine Demonstration gegen dieses Vorhaben wurde von der Polizei gewaltsam attackiert.

Da vermutlich nicht alle diese Nachrichten allgemein bekannt sind, hier zunächst die etwas ausführlichere Version – mit den entsprechenden Links:

1. In einer Studie der Nato, die auch die EU veröffentlicht hat, wird der Tatbestand der "Informationswäsche in Deutschland" untersucht. Darunter fassen die Autoren journalistische Positionen, die Zweifel an (außen-)politischen Informationen bzw. Begründungen äußern. Untersucht werden die Themen Covid-19, EU-Sanktionen gegen Russland, Nord Stream 2 sowie die Vergiftung von Alexei Nawalny.

Als Resultat wird der Tatbestand der "Desinformation" festgehalten, als einer der "Hauptakteure" wird neben Sputnik und RT Deutsch Florian Rötzer von Telepolis genannt. Rötzer hat im Fall Nawalny übrigens das getan, was guter Journalismus kann: Er lieferte gute Recherchen und fragte hartnäckig nach, z.B. hier. In Großbritannien ist zu sehen, was passieren kann, wenn ein Journalist Regierungsinteressen in die Quere kommt: Craig Murray, früher britischer Diplomat und inzwischen Journalist, der beharrlich den Assange-Fall begleitet, ist unter Vorwänden zu acht Monaten Gefängnis verurteilt worden. Seine Berichterstattung wird die Fortsetzung dieses Verfahrens nicht mehr stören.

2. Anfang Mai 21 stellt sich die Bundesregierung nach einer Anfrage der Linkspartei explizit hinter die inzwischen gut fünfzehn Jahre andauernde Beobachtung einer linken Tageszeitung durch den Verfassungsschutz. Die dezidiert marxistische Position inklusive "Klassenbegriff", Mobilisierung für linke Konferenzen und Demonstrationen sowie eine nicht genügende Distanzierung von Gewalt bei Befreiungsbewegungen der Dritten Welt werden als Gründe angeführt; finanzielle Schädigung für die Tageszeitung als explizit gewollte Folgen genannt.

3. Am 25.6.21 wird dem Verfassungsschutz per Gesetz erlaubt, auf die sogenannten Messenger-Dienste zuzugreifen und verschlüsselte Kommunikation der Bürger mitzulesen.

4. Noch vor der Sommerpause dieses strebte die Landesregierung in Nordrhein-Westfalen an, ein neues Versammlungsgesetz zu verabschieden. Es erlaubt die (verdeckte) Überwachung und Aufzeichnung von Demonstrationen durch Drohnen und Hubschrauber; es verlangt (mehr) Daten über Anmelder und Ordner; es verbietet – außer der sogenannten "Vermummung", mit der Protestierende einer Identifizierung vorbeugen wollen – einheitliche Kleidung, mit der ein inhaltliches Anliegen, aber auch "Militanz" ausgedrückt wird.

Gerade will Bayern mit einem neuen Artikel im Polizeiaufgabengesetz nachziehen, das eine anlasslose Personenüberprüfung bereits vor dem Zutritt zu Veranstaltungen bzw. Demonstrationen gestattet.

5. Eine Demonstration gegen diese Pläne (Düsseldorf, 26.6.) wird von einem "massiven Polizeieinsatz" "begleitet", der den Geist des neuen Gesetzes vorwegnimmt. Die mediale Aufregung angesichts des behördlichen Einsatzes von "Reizgas und Einsatzmehrzweckstock" (Presseerklärung der Polizei), stundenlanger Einkesselung von Hunderten Leuten, Abbruchs der Demonstration und vielen Verletzten (Video) gilt einem dpa-Fotografen, der zwischen die Fronten geraten war. Die Kommentare der Leser einer Düsseldorfer Zeitung bewegen sich zu einem nicht geringen Teil zwischen "der Fotograf wollte wieder mal nur die Polizeigewalt ablichten" bis hin zu "geschieht der Antifa (wahlweise: den Kommunisten, den Chaoten, den Linken) sowieso Recht" …

Zusammengefasst: nach außen – Richtung China, Belarus, Russland oder andere übliche Verdächtige – laute Anklagen gegen mangelnde Presse- und Demonstrationsfreiheit. Im Innern zunehmende Repression: geheimdienstliche Schikanen gegen eine linke Tageszeitung und einen unbequemen Journalisten; ein neues Polizei- und Versammlungsrecht, das deutlich auf Abschreckung, Unterordnung und Kriminalisierung von Demonstrationen zielt; eine Polizei, die das schon mal durchexerziert, und Bürger, die dabei applaudieren - ohne dass das Bild von der freiheitlichen Gesellschaft angekratzt würde.

Man kann jetzt natürlich abwinken, nach dem Motto: Was geht’s mich an? Oder sagen: In China und Nordkorea ist es sicher noch schlimmer. Das mag sein. Obwohl zumindest auffallen könnte, dass man dieses Argument in seiner ganzen Abstraktheit durchhalten kann, ohne das Geringste über Presse, Öffentlichkeit, Staat und Polizei hier wie dort zu wissen.

Man kann natürlich auch voll dafür sein, dass die Linken, die ewigen Nörgler und die Antifa was "in die Fresse" bekommen, weil man der Auffassung ist, dass damit alles besser wird in diesem schönen Land. Man kann sich genau umgekehrt in der trüben Meinung bestätigt sehen, dass Deutschland im Kern doch ein faschistisches Land ist, das jetzt wieder seinen wahren Charakter enthüllt.

Oder – und das ist die Alternative, die ich hier vorschlage – man kann sich der Frage widmen, wie das alles zusammengehört: die Verankerung von Meinungs-, Presse- und Demonstrationsfreiheit im Grundgesetz, das Selbstbewusstsein von der Güte der deutschen Demokratie im Wettstreit der Staaten sowie die zitierte Realität.

Wen das interessiert, der sollte weiter lesen.