Soft Robotics: Wie aufblasbare Finger Hand-Prothesen auf eine neue Stufe heben

Prothesen sind oftmals starr und schwergängig. Ein pneumatisches System verspricht mehr Agilität zu einem weitaus niedrigeren Preis.

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(Bild: MIT)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • Enno Park

Handprothesen haben in den letzten Jahren enorme Fortschritte gemacht. Myoelektrische Prothesen – die Silbe "myo" bedeutet Muskel – messen auf der Haut des Armstumpfes die elektrische Aktivität der vorhandenen Muskulatur und setzen diese in Befehle für die Prothese um. Auf diese Weise können Menschen solche Prothesen quasi mit Gedankenkraft steuern wie eine natürliche Hand.

Allerdings führt ein allzu enthusiastischer Vergleich mit der natürlichen Hand auf eine falsche Fährte: Die aktuellen Prothesen mit ihrem Metallskelett und Elektromotoren sind vergleichsweise steife schwergängige Roboterhände, die ein Pfund und mehr auf die Waage bringen. Zudem geben sie bei Bewegungen ein leises Surren von sich. Wer mit dem Umgang der Prothesen geschickt ist, kann sich damit die Schuhe zubinden oder sie auch – dank 360 Grad-Umdrehungen mancher Hände – wie ein Akkuschrauber benutzen. Dagegen ist an Klavierspiel eher nicht zu denken.

Ein Prototyp, der am MIT und der Jiao Tong Universität von Shanghai entwickelt wurde, versucht der Anmutung einer Hand aus Fleisch und Blut näherzukommen. Dafür nimmt das Team rund um den Forscher Guoying Gu Anleihen aus dem Bereich der Soft Robotics, wo mit weichen und biegsamen Materialien statt starrem Gestänge gearbeitet wird. Die Kernidee beschreibt das Team in einem Paper, das sie in der Zeitschrift Nature Biomedical Engineering veröffentlichten: Die künstliche Hand besteht aus aufblasbaren Kunststoff-Röhren, die an den Fingergelenken flexibel sind. Wird die Hand aufgeblasen, streckt sie sich. Wird Luft abgelassen, krümmt sich die Hand.

Das funktioniert erstaunlich gut. Die Probanden sind in der Lage, eine Reihe von Alltagsaufgaben zu lösen, die eine relativ hohe Taktilität erfordern, etwa aus einem Weinglas trinken, flache Gegenstände aufheben, einen Reißverschluss öffnen oder eine Katze streicheln. Mit dem Prototypen funktionieren die meisten der gestellten Aufgaben genauso gut oder besser als mit einer starren Prothese nach herkömmlicher Bauweise.

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Zum Bewegen der Finger und Öffnen und Schließen der Hand werden also keine Elektromotoren benötigt, sondern ein pneumatisches System. Das löst zugleich ein Grundproblem beim Design von Handprothesen: Die Hand darf nicht zu fest zugreifen, sodass beispielsweise ein Weinglas zerdrückt würde, aber auch nicht zu locker, damit es beim Trinken und Halten sicher in der Hand liegt. Die aufblasbaren Ballonfinger haben einerseits mehr Grip und federn andererseits zu starke Drücke ab.

Wie hoch der Luftdruck in den Fingern sein muss, wird mithilfe eines Algorithmus berechnet, der seine Ausgangsdaten wiederum aus Sensoren entgegennimmt, die am Armstumpf auf der Haut anliegen. Wie bei anderen myoelektrischen Prothesen auch muss das System zunächst trainiert werden. Die Probanden stellen sich vor, bestimmte Bewegungen auszuführen und das System zeichnet auf, welche elektrische Aktivität mit diesen Bewegungen einhergeht.

Zugleich gehört der Prototyp zu den wenigen Handprothesen, die nicht nur Bewegungen ausführen, sondern ein taktiles Feedback geben können, wenn mit ihnen Gegenstände berührt werden. Kapazitive Berührungssensoren an allen fünf Fingerspitzen geben ein Signal ab, anhand dessen passende Regionen am Armstumpf elektrisch stimuliert werden. Auf diese Weise erlangen die Probanden einen primitiven Tastsinn, der es ihnen erlaubt, ihren Zugriff mit der Handprothese zu regulieren. In Experimenten mit verbundenen Augen konnten die Probanden angeben, welcher Finger der Prothese gerade berührt wurde.

Noch handelt es sich bei dem System um einen Prototyp und nicht um ein marktreifes Produkt. Im Vergleich zu anderen myoelektrischen Prothesen fehlt beispielsweise noch ein Handgelenk und die Fähigkeit, die Hand zu drehen. Allerdings ist der Ansatz von Guoying Gus Team äußerst vielversprechend. Die Prothese ist erheblich leichter, die flexiblen Kunststoffe langlebiger und schwerer zu beschädigen. Die Materialkosten liegen bei gerade mal 500 US-Dollar, während für die herkömmlichen Modelle fünfstellige Beträge verlangt werden. Damit besteht die Aussicht, auch Menschen in weniger wohlhabenden Schichten und Regionen mit myoelektrischen Prothesen versorgen zu können. (jle)