11. September 2001: Wie die Netzgemeinde vor 20 Jahren die Anschläge erlebt

Vor 20 Jahren verfolgten die Menschen Live-Videos noch am Fernseher. Dank ISDN, ICQ und IRC war es im Netz möglich, Infos einzuholen – und sich auszutauschen.

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Blick auf New York am 11. September 2001 aus dem All.

(Bild: NASA)

Lesezeit: 4 Min.
Von
  • René Meyer

11. September 2001, gegen 15 Uhr MESZ. Bereits wenige Minuten nach den ersten Agentur-Meldungen über den Sturz eines Kleinflugzeuges – wie man zunächst glaubt – in das World Trade Center in New York, nach den ersten Berichten auf Nachrichtensendern, informieren die Schnellsten in Diskussionsforen der verschiedensten Websites über das Unglück. Die eigentlichen Themen wie Heimkino und Computerspiele geraten in den Hintergrund. Die virtuellen Plauderräume, die Chats, in denen sonst etwa über die besten DVDs gestritten wird, wandeln sich in Nachrichtenticker.

Für viele, die weder Fernseher noch Radio eingeschaltet haben, sind die Treffpunkte der bevorzugten Gemeinschaft im Netz die erste Informationsquelle. Viele arbeiten noch und können ohnehin keinen Fernseher einschalten.

Vor 20 Jahren ist ein Drittel der Deutschen online. Der typische Netznutzer: männlich, jung, gebildet. Mehr als 20 Millionen ISDN-Anschlüssen mit 64 KBit/s stehen 2 Millionen DSL-Verträge gegenüber. Doch der Anteil des neuen DSL, damals mit 768 KBit/s, wächst rasant; dank der neuen Telekom-Flatrate für 49 Mark. SMS und ICQ sind das WhatsApp von 2001. Noch exotisch ist das Surfen mit Handys – deren Marken hauptsächlich Nokia, Ericsson und Siemens heißen.

Das Entsetzen über das Gesehene schweißt die Teilnehmer noch fester zusammen. Innerhalb von nur zwei Stunden geht es Schlag auf Schlag. Das erste Flugzeug stürzt in das World Trade Center. Kurze Zeit später das Zweite. Und das Dritte in das Pentagon. Der erste Turm stürzt ein. Dann der Zweite. In Washington explodiert eine Autobombe, so hieß es. Und das vierte Flugzeug, Flug 93, stürzt in Pennsylvania ab.

Das Fernsehen liefert die Berichte, die gleichzeitig im Chat kommentiert werden. Bis in den frühen Morgen sitzt der harte Kern vor zwei Bildschirmen, wirft aktuelle Entwicklungen als Satzfetzen in den Raum und gibt sich gegenseitig Tipps, welcher Fernsehsender im Augenblick einen interessanten Beitrag ausstrahlt. Nachteulen, die in einer Mischung aus Angst und Aufregung aus dem Bett getrieben werden, lassen sich in den Plauderräumen auf den neuesten Stand bringen.

Während der Chat gleichzeitig und dafür weniger ausführlich kommentieren lässt, sind die Foren Hort für detaillierte Diskussionen. Leidenschaftlich werden Spekulationen über Täter und Vorgehensweise erörtert, wird Trauer ausgedrückt. Mehr als tausend Beiträge innerhalb der ersten 24 Stunden generieren große Foren, verteilt auf bis ein Dutzend Einzelthemen.

Wer sich gerade in den USA aufhält, gibt einen Bericht von dort ab. Einige informieren sich per E-Mail nach dem Befinden US-amerikanischer Freunde oder bekunden einfach Beileid: Während das Telefonnetz in den USA zeitweise kaum nutzbar ist, funktioniert die Kommunikation im Netz.

Freilich nutzt nur ein Bruchteil der Internet-Besucher solche Gemeinschaften, und so sind die großen Nachrichten-Websites dem erhöhten Zustrom nicht gewachsen. Bis zu zehnmal so viele Zugriffe sorgen dafür, dass sie stundenlang nicht erreichbar sind. Spiegel online bekommt von heise online eine Art Fallback, um überhaupt erreichbar zu sein. Auch der Internet-Verkehr in Deutschland wächst stark an – auf die dreifache Datenmenge, sagt die Telekom. Linderung kommt mit Gegenmaßnahmen: Server-Kapazitäten werden verstärkt; die Webseiten um all die Elemente bereinigt, die nur Platz fressen, aber keine Informationen bieten. So zeigt sich manches Nachrichtenportal mit nacktem Text – wie zu den Anfangszeiten des Webs –, oder spiegelt die Daten auf mehreren Servern.

Wer das Glück eines Stammforums hat, sieht das Zusammenbrechen der Nachrichtenwebseiten gelassen: Aktuelle Texte verbreiten sich über die Anschlagbretter, und während die großen Namen aufgrund der vielen Zugriffe zeitweise gar nicht erreichbar sind, werden die Adressen zu den Tickern kleinerer Zeitung wie als Geheimtipp weitergereicht. Manche bereiten die Neuigkeiten im Minutentakt auf, und der Verzicht auf Bilder spart die Bandbreite, die wiederum einem schnellen Zugriff zugutekommt.

Von Anfang an bleiben die Schattenseiten des Netzes nicht erspart. Wenige Stunden nach den Attentaten werden Trümmerstücke des World Trade Centers und Live-Videos in Online-Auktionen angeboten. Es wird errechnet, dass das Datum des Anschlags zur mysteriösen Zahl 23 (= 11 + 9 + 2 + 1), dem Kennzeichen der Illuminaten, führe. Es werden vermeintliche Nostradamus-Zitate verbreitet; und animierte Scherz-Grafiken, die den Zusammensturz der Zwillingstürme in ein Computerspiel pressen.

Das Missing Link am morgigen Sonntag wird sich ausführlich mit den Folgen von 9/11 befassen.

(anw)