Was Chinas Überwachungstechnik mit der US-Wirtschaft zu tun hat

Aufgrund der Corona-Pandemie eingesetzte Spionagetechnik lässt sich auch zur Unterdrückung einsetzen. Und das zeigt sich eben nicht nur im Reich der Mitte.

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Wärmebildkamera im Einsatz – hier nicht in China, sondern auf einem griechischen Flughafen.

(Bild: Etan Tal / Wikipedia / cc-by-3.0)

Lesezeit: 11 Min.
Von
  • Darren Byler
Inhaltsverzeichnis

Dieser Artikel erschien bei Technology Review in den USA und ist ein gekürzter Buch-Auszug aus "In The Camps: China's High-Tech Penal Colony" von Darren Byler (Columbia Global Reports, 2021). Byler ist Assistenzprofessor für internationale Studien an der Simon Fraser University im kanadischen Vancouver und beschäftigt sich insbesondere mit Technik und Politik im Rahmen des städtischen Lebens in China.

Irgendwann Mitte 2019 klopfte ein Polizeibeamter in der chinesischen Stadt Kuitun einer jungen Studentin der University of Washington auf die Schulter, als sie durch eine überfüllte Marktkreuzung ging. Die Studentin Vera Zhou bemerkte das Klopfen zunächst nicht, da sie mit ihren Kopfhörern Musik hörte, während sie sich durch die Menge schlängelte. Als sie sich umdrehte und die schwarze Uniform sah, lief ihr das Blut aus dem Gesicht. Der Polizeibeamte sprach auf Chinesisch, Veras Muttersprache, und wies sie in eine nahegelegene Polizeistation der Volkspolizei – eine von mehr als 7.700 solcher Überwachungsstellen, die es inzwischen überall in der Region gibt.

Auf einem Monitor in dem kastenförmigen grauen Gebäude sah sie ihr Gesicht umgeben von einem gelben Quadrat. Auf anderen Bildschirmen sah sie Passanten, die über den Markt gingen, deren Gesichter von grünen Quadraten umgeben waren. Neben dem hochauflösenden Videostandbild ihres Gesichts erschienen ihre persönlichen Daten in einem schwarzen Textfeld. Dort stand, dass sie Hui ist, Mitglied einer chinesischen muslimischen Gruppe, die etwa 1 Million der 15 Millionen Muslime im Nordwesten Chinas ausmacht. Der Alarm war ausgelöst worden, weil sie die Grenzen des polizeilichen Netzes ihres Wohnviertels überschritten hatte. Als ehemalige Gefangene eines Umerziehungslagers war es ihr offiziell nicht gestattet, sich ohne ausdrückliche Erlaubnis sowohl ihrer Nachbarschaftswache als auch des Büros für öffentliche Sicherheit in andere Stadtteile zu begeben. Das gelbe Quadrat um ihr Gesicht auf dem Bildschirm zeigte an, dass sie von dem digitalen Einschluss-System, das Muslime festhielt, erneut als "Pre-Criminals", als potenzielle Kriminelle, eingestuft worden war. In diesem Moment habe sie sich gefühlt, als könne sie kaum atmen.

Kuitun ist eine kleine Stadt mit etwa 285.000 Einwohnern in der Präfektur Tacheng in Xinjiang an der chinesischen Grenze zu Kasachstan. Vera war dort seit 2017 gefangen, als sie mitten in ihrem ersten Studienjahr als Geografiestudentin an der University of Washington (wo ich als Dozent tätig war) eine spontane Reise nach Hause unternahm, um ihren Freund zu besuchen. Nach einem Kinobesuch in der Regionalhauptstadt Ürümchi erhielt ihr Freund einen Anruf, in dem er aufgefordert wurde, zu einer örtlichen Polizeistation zu kommen. Dort teilten ihm die Beamten mit, dass sie seine Freundin befragen müssten: Sie hätten verdächtige Aktivitäten bei Veras Internetnutzung festgestellt, sagten sie. Sie hatte ein virtuelles privates Netzwerk (VPN) benutzt, um auf "illegale Websites" zuzugreifen, z. B. auf ihr Gmail-Konto an der Universität. Dies sei ein "Zeichen für religiösen Extremismus", sagten sie ihr später.

Als sie fragte, ob sie verhaftet sei, verweigerten sie die Antwort.

"Setzen Sie sich einfach", sagten sie ihr. Inzwischen war sie sehr verängstigt und rief ihren Vater in ihrer Heimatstadt an und erzählte ihm, was geschehen war. Schließlich fuhr ein Polizeiwagen auf dem Bahnhof vor: Sie wurde hinten hineingesetzt, und als ihr Freund außer Sichtweite war, fesselten die Polizisten ihre Hände fest auf dem Rücken und drückten sie grob auf den Rücksitz.

Vera Zhou hätte nicht gedacht, dass der chinesische Krieg gegen den Terror irgendetwas mit ihr zu tun haben würde. Sie sah sich selbst als areligiöse Modeliebhaberin, die klobige Ohrringe und schwarze Kleidung liebte. Sie war in der Nähe von Portland, Oregon, zur High School gegangen und mittlerweile auf dem Weg, Stadtplanerin mit Abschluss an einer renommierten amerikanischen Universität zu werden.

Sie hatte eigentlich geplant, nach dem Studienende wieder mit ihrem Freund zusammenzuziehen und dann in China Karriere zu machen, wo ihrer Ansicht nach die Wirtschaft boomte. Sie hatte keine Ahnung, dass in ihrer Heimatstadt sowie in ganz Xinjiang Anfang 2017 ein neues Internetsicherheitsgesetz in Kraft getreten war und dass damit sogenannte extremistisch Vorbelastete, wie die Behörden das nannten, identifiziert und inhaftiert werden konnten. Ihr war weiterhin nicht klar, dass ein frisch ernannter Parteisekretär in der Region den Befehl gegeben hatte, im Rahmen eines "Volkskriegs" der Kommunistischen Partei eine Verhaftungswelle vornehmen zu lassen.

In den nächsten Monaten wurde Vera zusammen mit 11 anderen Frauen, die Angehörige der muslimischen Minderheit Chinas sind, in einer Zelle im zweiten Stock einer ehemaligen Polizeistation am Stadtrand von Kuitun festgehalten. Wie Vera hatten sich auch andere in diesem Raum angeblicher Cyber-Vergehen schuldig gemacht. Eine kasachisch-stämmige Frau hatte beispielsweise WhatsApp auf ihrem Telefon installiert, um Geschäftspartner in Kasachstan zu kontaktieren. Und eine uigurische Frau, die auf einem Basar Smartphones verkaufte, hatte mehreren Kunden erlaubt, ihre SIM-Karten mit ihrer ID-Karte zu registrieren.

Im April 2018 wurden Vera und mehrere andere Inhaftierte dann plötzlich ohne Vorwarnung freigelassen. Wirklich frei waren sie nicht – die Entlassung erfolgte unter der Bedingung, dass sie sich regelmäßig bei Beamten melden, die für sogenannte soziale Stabilität zuständig sind. Auch ihr Wohnviertel durften sie nicht mehr verlassen.

Wie alle Inhaftierten wurde Vera einer strengen biometrischen Datenerfassung unterzogen. Die Polizei hatten Veras Gesicht und ihre Iris gescannt, eine Stimmsignatur aufgezeichnet und Blutproben, Fingerabdrücke und DNA eingesammelt, um diese präzisen Daten einer riesigen Datenbank hinzuzufügen, die dazu dient, das Verhalten der Bevölkerung in der Region zu kartieren. Man hatte ihr auch das Telefon weggenommen, um es zusammen mit ihren Social-Media-Konten auf muslimisch geprägte Bilder, Verbindungen zu Ausländern und andere Anzeichen von "Extremismus" zu überprüfen. Schließlich gaben die Beamten ihr das Gerät zurück, allerdings ohne die in den USA entwickelten Apps wie Instagram.

Wie viele ehemalige Häftlinge wurde Vera schließlich gezwungen, als unbezahlte Arbeitskraft tätig zu werden. Als der örtliche Polizeichef in ihrer Nachbarschaft erfuhr, dass sie als Studentin eine Zeit lang in den Vereinigten Staaten gelebt hatte, bat er Veras Bewährungshelfer, sie als Englischlehrerin für seine Kinder einzusetzen. "Ich dachte daran, ihn zu bitten, mich zu bezahlen", erinnert sich Vera. "Aber mein Vater sagte, ich solle es umsonst machen. Er gab mir auch Essen für sie mit, um zu demonstrieren, wie sehr er diese Familie zufriedenstellen wollte." Der Polizeikommandant habe später nie irgendeine Form von Bezahlung angesprochen.

Im Oktober 2019 teilte Veras Bewährungshelferin ihr schließlich mit, dass sie mit Veras Fortschritten zufrieden sei und sie ihre Ausbildung in Seattle fortsetzen dürfe. Sie musste allerdings ein Gelübde unterschreiben, nicht über das Erlebte zu sprechen. Die Beamtin sagte: "Dein Vater hat einen guten Job und wird bald das Rentenalter erreichen. Vergiss das nicht."

Im Herbst 2019 kehrte Vera schließlich nach Seattle zurück, das auch Hauptsitz von Amazon ist. Nur wenige Monate später erhielt der E-Commerce-Gigant eine Lieferung von insgesamt 1.500 Wärmebildkamerasystemen des chinesischen Überwachungsunternehmens Dahua. Viele dieser Systeme im Gesamtwert von etwa 10 Millionen Dollar sollten in Amazon-Lagern installiert werden, um die Wärmesignaturen der Mitarbeiter zu überwachen und die Manager zu alarmieren, wenn die Mitarbeiter COVID-19-Symptome wie Fieber zeigten. Andere Kameras, die in der Lieferung enthalten waren, gingen unter anderem an IBM und den Autokonzern Chrysler.

Dahua ist nur eines von vielen chinesischen Unternehmen, die aus der Pandemie Kapital schlagen konnten. Als das Virus Anfang 2020 die Grenzen Chinas zu überschreiten begann, expandierte eine Gruppe medizinischer Forschungsunternehmen im Besitz des Beijing Genomics Institute (BGI) radikal. Man gründete 58 Labors in 18 Ländern und verkaufte 35 Millionen COVID-19-Tests in mehr als 180 Weltregionen. Im März 2020 kauften amerikanische Unternehmen wie Russell Stover Chocolates oder US Engineering, ein in Kansas City, Missouri, ansässiges Maschinenbauunternehmen, Tests im Wert von 1,2 Millionen Dollar. BGI-Laborgeräte landeten in Einrichtungen des University of Kansas Medical System, einem Netzwerk von Universitätskrankenhäusern.

Während Dahua seine Geräte an Unternehmen wie Amazon verkaufte, stellte der Gesichtserkennungsspezialist Megvii, einer seiner Hauptkonkurrenten, Heat-Mapping-Systeme in Krankenhäusern, Supermärkten, Flughäfen und Konzernzentralen auf – in China, Südkorea, den Vereinigten Arabischen Emiraten und anderswo.

So lobens- und bewundernswert es auch ist, wie schnell US-Firmen in Ermangelung wirksamer staatlicher Maßnahmen gegen die Seuche reagierten, um ihre Arbeitnehmer zu schützen, umso erstaunlicher ist es, dass sie zu Technik griffen, die von chinesischen Firmen stammen, denen eine Verwicklung in massive Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen wird.

Dahua ist einer der wichtigsten Anbieter von "Smart Camp"-Systemen, die Vera Zhou in Xinjiang am eigenen Leib kennengelernt hat – nach Angaben des Unternehmens werden die Anlagen durch Verfahren wie "Bilderkennung, Big-Data-Analyse und Cloud-Computing" unterstützt. Im Oktober 2019 gehörten sowohl Dahua als auch Megvii zu acht chinesischen Technologieunternehmen, die auf eine schwarze Liste gesetzt wurden, die US-Bürgern den Verkauf von Waren und Dienstleistungen an sie untersagt. Der Eintrag, der verhindern soll, dass US-Firmen ausländische Firmen beliefern, die als Bedrohung der nationalen Interessen angesehen werden, hinderte Amazon zwar daran, Technik und Dienstleistungen an Dahua zu verkaufen – eingekauft wurde hingegen schon. Die Tochtergesellschaften von BGI in Xinjiang wurden wiederum im Juli 2020 auf die US-Handelsverbotsliste gesetzt.

Amazon spielt unterdessen seine eigene Rolle bei Überwachungssystemen – einer Technik, die ethnischen Minderheiten unverhältnismäßig schadet. So soll das Unternehmen mit der US-Einwanderungs- und Zollbehörde zusammenarbeiten, die Einwanderer ohne Aufenthaltspapiere ins Visier nimmt. Außerdem betreibt Amazon aktiv Lobbyarbeit dafür, dass biometrische Überwachung in den USA kaum reguliert wird. Die Asien-Abteilung von Microsoft Research hat wiederum eine entscheidende Rolle beim Wachstum und der Entwicklung von Dahua und Megvii gespielt und gilt inzwischen als "Wiege der chinesischen KI".

Die Finanzierung durch den chinesischen Staat, die globale Debatte um den Kampf gegen den Terror und eine US-Industrie, die aktiv Menschen im KI-Bereich aus dem Ausland trainiert, sind drei der Hauptgründe, warum eine ganze Flotte chinesischer Unternehmen heute weltweit führend in der Gesichts- und Stimmerkennung ist.

Dieser Prozess wurde durch repressive Maßnahmen beschleunigt, die sich darauf konzentrierten, Minderheiten wie die Uiguren, Kasachen und Hui hinter komplexe digitale wie physische Zäune zu stecken – im Namen der Terroristenabwehr. Mittlerweile ist die gesamte chinesische Technologieindustrie dabei, datenintensive Infrastruktursysteme zu schaffen, die solche Maßnahmen auf das ganze Land ausdehnen – wenn auch nicht im selben Ausmaß wie in Xinjiang.

Chinas weitreichende Reaktion auf die Pandemie hat diesen Prozess weiter beschleunigt, indem diese Systeme schnell implementiert wurden und demonstrieren konnten, dass sie funktionieren. Und da sie die staatliche Macht auf so weitreichende und intime Weise ausweiten, können sie das Verhalten der Menschen effektiv verändern.

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