Die Grünen, Hartz IV und die Unterprivilegierten

Hartz IV ist Armut per Gesetz - so sieht es die Mehrheit der Grünen Jugend. Bild: Wilfried Pohnke auf Pixabay (Public Domain)

In der Empörungswelle über alte Tweets der Jungpolitikerin Sarah-Lee Heinrich geht unter, wofür sie aktuell steht - und was das mit den Sondierungsgesprächen zu tun hat

Während die Grünen mit dem Wahlsieger SPD und der kleinen, aber umso selbstbewusster auftretenden FDP Sondierungsgespräche für eine "Ampel-Koalition" im Bund führen, hat sich Sarah-Lee Heinrich, neue Bundessprecherin der Grünen Jugend und laut Twitter-Profil "Aktivistin für soziale Gerechtigkeit", die Hartz IV "echt scheiße" findet, für ein paar Tage zurückgezogen. Der Grund sind nach Angaben ihrer Organisation mehrere Morddrohungen, die sie wegen älterer Tweets und Aussagen zu Themen wie Rassismus und Kolonialismus erhalten hat.

Doch nicht nur in rechten Facebook- oder Telegram-Gruppen wird vorzugsweise ausgebreitet, was die heute 20-jährige schwarze Studentin der Sozialwissenschaften vor Jahren über die "eklige weiße Mehrheitsgesellschaft" gesagt oder geschrieben hat - und dass sie "die Gesamtheit der weißen Menschen, die davon profitieren, dass mein Heimatkontinent ausgeraubt wurde", hasse. Auch Massenmedien aus dem Hause Springer mischen dabei mit, problematisieren "Die Grüne Jugend und ihr Deutschlandbild".

Dass sich Sarah-Lee Heinrich für solche Aussagen entschuldigt hat - ebenso wie für offensichtlich ironisch gemeinte Kommentare zu Hitler, Hakenkreuzen und den Nazis, die sie im Alter von 13 oder 14 Jahren abgesetzt hatte - tut der Empörungswelle keinen Abbruch. Dass hier eine schwarze Jugendliche nach Möglichkeiten gesucht hat, auf Rassismus anders zu reagieren als es Rassisten gerne hätten - nämlich nicht mit Tränen, sondern mit Galgenhumor und deftigen Retourkutschen - und dass sie nicht gleich den coolen, sachlichen Weg gefunden hat, wollen ihr viele nicht verzeihen.

Heute ist die soziale Frage ihr Schwerpunkt

Und ganz "nebenbei" wird nur wenig darüber gesprochen, wofür sie heute steht - nämlich nicht nur für die schwarze Minderheit in ihrer Partei, sondern auch für die Minderheit bei den Grünen, die Armut aus eigener Erfahrung kennt und mit Nachdruck die Interessen der ärmeren Bevölkerungsteile vertritt. Als Tochter einer alleinerziehenden Mutter, die Arbeitslosengeld II bezog, musste sie sich die Möglichkeit, zu studieren, erst einmal erkämpfen. So geht es auch weißen "Hartz-IV-Kindern". Nicht umsonst hat Sarah-Lee Heinrich in letzter Zeit soziale Gerechtigkeit zu ihrem Schwerpunkt gemacht.

Dass die mehrheitlich weiße Grüne Jugend sie zur Bundessprecherin gewählt hat, war auch ein Signal an die Parteispitze, bei Sondierungs- und späteren Koalitionsgesprächen nicht nur an die besserverdienende Bioladen-Fraktion mit den nagelneuen E-Autos zu denken. Wenn Heinrich, ihr Ko-Sprecher Timon Dzienus und die Grüne Jugend nun geschwächt dastehen und als radikale Heißsporne gelten, fühlen sich die Grünen-Parteichefs Robert Habeck und Annalena Baerbock vielleicht noch weniger verpflichtet, beim Verhandeln mit SPD und FDP auch an diejenigen zu denken, die aus purer Not Energie sparen und bei Lidl einkaufen.

Das versprechen die Parteien

Jemand wie Sarah-Lee Heinrich dürfte die Spitzen-Grünen immer wieder an das Versprechen in ihrem Wahlprogramm erinnern, die verheerenden "Arbeitsmarkt- und Sozialreformen" der Agenda 2010 rückgängig zu machen. "Die grüne Garantiesicherung ist eine Grundsicherung, die nicht stigmatisiert und die einfach und auf Augenhöhe gewährt wird", hieß es zuletzt im Wahlprogramm der Grünen, die in den 2000er-Jahren als Juniorpartner des SPD im Bund das Hartz-IV-Sanktionssystem abgenickt hatten.

Für diese Legislaturperiode haben die Grünen für den Fall einer Regierungsbeteiligung einen Kurswechsel versprochen: "Das soziokulturelle Existenzminimum werden wir neu berechnen und dabei die jetzigen Kürzungstricks beenden." In einem ersten Schritt solle der Regelsatz "um mindestens 50 Euro und damit spürbar" angehoben werden. Zuletzt hat vor wenigen Tagen der Bundesrat einer Erhöhung um drei Euro im Monat zugestimmt.

Die SPD hat in ihrem "Zukunftsprogramm" immerhin versprochen, den Bezug von Arbeitslosengeld I länger als ein Jahr zu ermöglichen, wenn Bedürftige zuvor viele Jahre berufstätig waren. "Die Grundsicherung werden wir grundlegend überarbeiten und zu einem Bürgergeld entwickeln", heißt es darin außerdem. "Sinnwidrige und unwürdige Sanktionen" beim Bezug von Lohnersatzleistungen sollen abgeschafft werden, so die SPD. In der Praxis könnte es aber bei solchen Formulierungen zum Streit über den "erzieherischen" Sinn von Leistungskürzungen kommen.

Zumal die FDP als "Königsmacher" zum Spardiktator werden könnte. Anders als SPD und Grüne will sie schließlich auf gar keinen Fall den Spitzensteuersatz oder sonstige Steuern erhöhen.

Die Frage ist: Blicken die Spitzen-Grünen peinlich berührt auf den Boden, wenn FDP-Chef Christian Lindner - den Timon Dzienus einst als "rechten Kotzbrocken" bezeichnete - sie beim Sondieren auf ihre Jugendorganisation anspricht? Entschuldigen sie sich nur für Kraftausdrücke oder insgesamt für die klassenkämpferische Attitüde der Grünen Jugend? Versichern sie der FDP, dass sich die schon bald "rauswachsen" wird, wie etwa beim früheren Juso-Chef Kevin Kühnert? Versprechen sie hinter dem Rücken von Sarah-Lee Heinrich sinngemäß, dass auch sie noch im Establishment ankommen wird? Welche Worte wählen sie dafür?

Natürlich dringen solche Details nicht nach außen. Zum Stand der Sondierungsgespräche vermeldete die stellvertretende Fraktionsvorsitzende der Grünen im Bundestag, Agnieszka Brugger, an diesem Mittwoch: "Man hat in den letzten beiden Tagen noch einmal große Schritte gemeinsam gemacht", wollte aber zu konkreten Inhalten noch nichts sagen. Es sei "natürlich auch ein hochsensibler Prozess", die bisherigen Absprachen in konkrete Vereinbarungen zu gießen, sagte Brugger in der Sendung "Schönen Morgen" im Rundfunk Berlin-Brandenburg. Am Freitag wollten die Unterhändler der drei Parteien eine Zwischenbilanz ziehen und entscheiden, ob sie den Gremien die Aufnahme formeller Koalitionsverhandlungen empfehlen.

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