Wie AOL, BTX und Compuserve Privatkunden online brachten

Vor dem Start des Internets in den 90er-Jahren boten Onlinedienste Zugang zu aktuellen Informationen. Die Bedienung war kompliziert, der Preis pro Stunde hoch.

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Von
  • Urs Mansmann
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Compuserve war der erfolgreichste Onlinepionier. Der Dienst startete 1969 als Rechenzentrum für eine Versicherungsgruppe, für die er Buchhaltungsdaten erfasste. Ab 1972 bot der Dienst unter dem Namen MicroNet Rechenleistung auch für Fremdfirmen an.

Die ersten Privatkunden nahm Compuserve 1979 an. Das Ziel war, brachliegende Rechenzentrumskapazität während der Nachtstunden zu Geld zu machen. Im Angebot waren zunächst aktuelle Börsenkurse, Zeitungsartikel, Wettervorhersagen und E-Mails, allerdings vorerst nur als proprietärer Dienst innerhalb des Firmennetzes.

Die Mailadressen folgten den Vorgaben des verwendeten Großrechner-Betriebssystems und bestanden aus acht oder neun Ziffern, durch ein Komma getrennt. Erst viele Jahre später wurde daraus eine E-Mail-Adresse, aus dem Komma wurde dabei ein Punkt nach dem Muster nnnnnn.nnn@compuserve.com. Leichter merkbare, frei festlegbare Aliasadressen gab es erst ab 1996.

Das Geschäft lief so gut, dass man die Sparte schon 1980 in ein eigenes Unternehmen auslagerte: Compuserve war geboren. Schon zu Beginn bot der Dienst – damals revolutionär – Onlinechats an, in Anlehnung an den damals populären lizenzfreien Jedermannsfunk auf dem Citizen Band "CB-Simulator" genannt.

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Für Nutzer in Deutschland abseits der wenigen Einwahlknoten war die Nutzung von Compuserve ein teurer Spaß. Tagsüber kostete eine Stunde Ferngespräch über 36 Mark. Erst 1999 führte auch Compuserve eine bundesweite Einwahlnummer ein, die einheitlich zum Ortstarif abgerechnet wurde.

Der erste erfolgreiche Onlinedienst zu sein, brachte Compuserve aber auch Nachteile: Die Struktur der Zugangssoftware erschien bald schon veraltet. Die verschiedenen Bereiche ließen sich über die Eingabe des Kommandozeilenbefehls GO <KÜRZEL> aufrufen, das System kannte zunächst keine Grafiken, sondern erlaubte nur Ein- und Ausgabe von Text. Um beispielsweise eine Datei in einem öffentlichen Downloadbereich bereitzustellen, musste der Benutzer den Befehl GO ACCESS benutzen. Die Datei herunterladen konnte nur, wer ihren genauen Namen kannte, einen Befehl zum Auflisten vorhandener Dateien gab es nicht. Nach 24 Stunden wurde die Datei wieder gelöscht.

Die Zugangssoftware der ersten Onlinedienste lief noch unter DOS.

Compuserve bot auch Zugriff auf die Foren des Usenet, einem Internetdienst für Nachrichtengruppen, der sich ab den 80er-Jahren einer großen Beliebtheit erfreute. Allerdings bescherte er Compuserve erheblichen Ärger mit der deutschen Justiz wegen der Verbreitung illegaler Inhalte – von Hakenkreuzen bis hin zu Darstellungen sexuellen Missbrauchs von Kindern. Aus Sicht der Anklagebehörde war Compuserve dafür verantwortlich, den Zugriff auf diese irgendwo eingestellten und weltweit auf den Newsservern verbreiteten Inhalte zu kontrollieren und gegebenenfalls zu unterbinden.

Compuserve reagierte und sperrte den Zugriff auf rund 250 Newsgroups – und löste damit scharfe Proteste aus. Verärgerte Nutzer in San Francisco schütteten Ende 1995 vor laufenden Fernsehkameras deutsches Bier in den Gulli, um gegen die Sperren zu protestieren. Compuserve gelang es schnell, die Sperre technisch auf Deutschland zu beschränken und die US-Nutzer damit wieder zu besänftigen. Nach einem jahrelangen Rechtsstreit wurde der Geschäftsführer Felix Somm schließlich 1999 freigesprochen und schrieb damit IT-Rechtsgeschichte zum Thema Providerhaftung.

Der Stern von Compuserve begann 1997 zu sinken. Zu diesem Zeitpunkt verkaufte der Eigner den Onlinedienst an WorldCom, ein Jahr später übernahm AOL den Konkurrenten und nahm umfangreiche Änderungen am Geschäftsmodell vor. Der antiquierte, aber insbesondere bei IT-Profis immer noch beliebte Dienst wurde zu "Compuserve Classic" umgetauft, die modernere Variante mit grafischer Bedienoberfläche taufte die Marketingabteilung "Compuserve 2000".

AOL wollte aber auch die Ausrichtung ändern und strukturierte den wenig übersichtlichen Forenbereich grundsätzlich um. Die Konzentration auf einige wenige Foren gefiel aber den Anwendern nicht, sodass die Nutzerzahlen stark abnahmen. In Europa geriet "Compuserve 2000" zum Flop, in den USA war AOL mit dem neuen Konzept hingegen erfolgreich. Compuserve Classic war in Deutschland noch bis zum Sommer 2009 verfügbar, dann zog AOL den Stecker.

AOL startete 1985, also lange nach Compuserve. Das Unternehmen ging als Quantum Computer Service aus der kurz zuvor gescheiterten Control Video Corporation hervor, die einen Onlinedienst zum Herunterladen von Spielen für den Atari 2600 angeboten hatte. Das Unternehmen verlegte sich auf Spiele für die Heimcomputer Commodore 64 und 128. 1988 startete Quantum Computer Service zusammen mit Apple die ersten Onlinedienste PC-Link und AppleLink.

1989 endete die Partnerschaft mit Apple, das Unternehmen benannte sich in AOL um und brachte 1991 ein Zugangsprogramm für DOS heraus, 1992 folgte die Windows-Version. Der Durchbruch in den USA kam 1996, als sich AOL von der Abrechnung nach Zeit verabschiedete und eine Flatrate für 20 Dollar im Monat anbot, die sich wie geschnitten Brot verkaufte.

Eine Million AOL-CDs wollten Aktivisten vor der Firmenzentrale abladen. AOL stellte den Vertrieb der CDs 2007 ein.

In den 90er- und 00er-Jahren flutete AOL alle potenziellen Absatzmärkte mit CDs. Die AOL-CDs waren allgegenwärtig. Im August 2001 riefen zwei US-Informatiker eine Aktion ins Leben: No more AOL-CDs, keine AOL-CDs mehr. Ihr Ziel: Eine Million CDs zu sammeln und diese werbewirksam vor der AOL-Zentrale in Dulles (Virginia) abzuladen. Die Kampagne endete, als AOL den Versand von CDs um 2007 herum einstellte. Bis dahin hatten die Initiatoren rund 410.000 CDs gesammelt.

In Deutschland machten Werbespots mit dem Tennisstar Boris Becker den Onlinedienst bekannt. Sein Slogan "Ich bin drin, das ist ja einfach." wurde zeitweise zum geflügelten Wort. Das Marketing von AOL richtete sich nicht an Computerfachleute, sondern an private Nutzer ohne große Vorkenntnisse.

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Großen Ärger für AOL gab es im Jahr 2000: Die Softwareversion 5 griff tief ins Betriebssystem Windows ein und veränderte dort Einstellungen für die Datenübertragung. In den USA führte das zu massiven Problemen und einer Klageflut, die aber letztlich folgenlos verebbte. Und auch in Deutschland wurden warnende Stimmen laut: Der Verband der deutschen Internetwirtschaft Eco warnte ausdrücklich vor der Installation der Software, weil sie vorhandene Netzwerk- und Internetprogramme außer Funktion setzen könne, zog seine Warnung aber später wieder zurück.

AOL wandelte sich erheblich später als der deutsche Konkurrent T-Online vom Inhalteanbieter zum Zugangsprovider. AOL-Mails ließen sich erst ab 2000 über standardisierte Mailprotokolle abrufen. Und erst ab 2003 gab es den Internetzugang ohne AOL-Software, was beispielsweise den Einsatz von Routern oder alternativen Betriebssystemen ermöglichte.

In Deutschland verkaufte AOL das Internet-Zugangsgeschäft an den damaligen Regionalanbieter Hansenet. Das deutsche AOL-Portal läuft wirtschaftlich getrennt und hat sich zur reinen Nachrichtenseite entwickelt. Die früheren Dienste sind nun im Internet zu finden, AOL-Mail lässt sich schon lange ganz ohne Zugangssoftware per POP3 und IMAP abrufen.

Das deutsche Onlineangebot startete zu einer ähnlichen Zeit wie Compuserve und AOL. Der Bildschirmtext (BTX) erblickte 1977 das Licht der Welt. Bundespostminister Gscheidle stellte den innovativen Dienst auf der IFA in Berlin vor. 1980 gab es einen Feldversuch mit 2000 Teilnehmern und 1983 startete BTX offiziell bundesweit.

Das wie AOL und Compuserve geschlossene System erlaubte die Anwahl von Seiten über eine numerische Tastatur. Hauptseiten wurden über eine mehrstellige Nummer aufgerufen, die mit einem Stern (*) begann und dem Doppelkreuz (#) endete, das fortan im deutschen Sprachraum "Raute" genannt wurde.

BTX startet Mitte der 80er-Jahre. Einzelne Angebote ließen sich über eine numerische Tastatur mit Stern und Raute aufrufen.

Das BTX-Gegenstück Minitel in Frankreich wurde ein Riesenrenner, vielleicht auch, weil die französische Post ihren Kunden die benötigte Hardware kostenlos zur Verfügung stellte. Im Jahr 2000 hatte Minitel 25 Millionen Nutzer an insgesamt 9 Millionen Geräten.

Über BTX liefen die ersten deutschen Onlineangebote für Banking, Bahnauskünfte und Versandhandel. Später kamen Erotikangebote dazu. Im BTX-Verzeichnis gab es dafür keine eigene Rubrik und so fand man Angebote etwa für erotische Bildchen im BTX-eigenen CEPT-Standard mit 420× 240 Pixeln und in 32 aus 4096 Farben oft unter "Sexualwissenschaften" verschlagwortet.

Die Postbank führte das Angebot BTX-Postgiro ein, eines der ersten Onlinebanking-Angebote für Privatkunden. Bis 1994 konnte das posteigene Unternehmen dafür 300.000 Kunden gewinnen.

Bildschirmtext war die deutsche Antwort auf Compuserve. Ein richtiger Erfolg wurde der Dienst nie, aber er markierte den Startschuss fürs Onlinebanking.

Intensive Nutzung des BTX-Dienstes konnte schnell ins Geld gehen. Viele Angebote waren pro Minute (bis zu 1,30 DM) oder pro abgerufener Seite (bis zu 9,99 DM) kostenpflichtig und selbst der Versand von Nachrichten über ein diensteigenes Mailsystem kostete 30 Pfennig pro Nachricht.

Gegenüber dem technisch neuen Onlinebanking hegten viele Kunden Vorbehalte. Die Bundespost versicherte indessen, dass das neue System absolut sicher sei. Der CCC wies auf eine potenzielle Sicherheitslücke hin, die Post schlug die Warnungen der Hacker aber in den Wind.

1984 machte der CCC, was Hacker in solchen Fällen machen: Er zeigte die Sicherheitslücke durch einen praktischen Hack auf. Dem legendären Wau Holland und seinem Mitstreiter Steffen Wernéry gelang es, die Zugangsdaten der Hamburger Sparkasse (Haspa) auszuspähen. Sie wählten sich damit in BTX ein und riefen eine eigens für diesen Zweck eingerichtete Seite des CCC für 9,97 DM pro Abruf in einer Endlosschleife auf, so schnell es die damaligen 1200-Baud-Modems hergaben. Am Ende kam für die Haspa ein Betrag von 134.694,70 DM zusammen.

Natürlich landete das Geld der Haspa am Ende nicht in der Clubkasse des CCC. Holland und Wernéry gingen straffrei aus, weil es Straftatbestände wie den Computerbetrug in den Anfängen der Computerei noch nicht gab. Bis heute ist umstritten, wie sich die beiden die Zugangsdaten verschaffen konnten – das Vertrauen in die Sicherheit von Onlinetransaktionen war aber erschüttert.

Das Interesse der Deutschen an ihrem nationalen Onlinedienst war im internationalen Vergleich eher gering. Die teuren Endgeräte, die zu Anfang sogar verplombt waren und die Benutzerkennung in einem EPROM trugen, und die hohen Onlinegebühren machten BTX wenig attraktiv. Zwar baute die Bundespost die Einwahlknoten beständig aus und erhöhte die Zugangsgeschwindigkeit per Modem von anfangs 1200/75 über 2400, 14.400 und 28.800 Bit/s auf zuletzt bis zu 56 kBit/s. Ein richtiger Renner wurde das Angebot aber erst, als man darüber ab 1995 ins Internet konnte.

CDs von AOL, CompuServe und T-online überschwemmten den Markt, ab Mitte der 1990er Jahre stellten die Unternehmen Internetzugänge bereit.

Mitte der 90er versuchte die Post, BTX das inzwischen zu T-Online umbenannt worden war, noch einmal zu modernisieren. Der KIT-Standard stellte Elemente auch grafisch dar, erlaubte den Anbietern mehr gestalterische Freiheiten und war für den Anwender bequemer zu bedienen. Viele Anbieter blieben aber beim alten BTX-Standard CEPT, den die Kunden gewohnt waren. Der Standard konnte sich gegen das aufkommende HTML nicht durchsetzen.

Ab 1996, inzwischen war das Geschäft an T-Online übergegangen, konzentrierte sich das Unternehmen wie alle Onlinedienste auf die Bereitstellung von Internetzugängen, nach denen die Nachfrage rasant stieg. 1997 stellte T-Online die Zugänge von der Datex-J-Infrastruktur auf TCP/IP um. 1997 berichtete c’t, dass der neue T-Online-Backbone mit 34 MBit/s arbeite, die Verbindung des Providers in die USA sei mit 102 MBit/s "großzügig dimensioniert".

Ab Ende der 90er-Jahre zogen die Anbieter von T-Online nach und nach ins Internet um. 2001 kam zunächst das Aus für das klassische BTX, 2007 ging dann endgültig das Licht aus. Heute ist das T-Online-Portal eine reine Nachrichtenseite, die aber immer noch Zugriff auf einige Dienste wie ein Webmail-Frontend und den Kundenservice der Telekom anbietet. Die Zeit der großen Onlinedienste als Inhalteanbieter ist endgültig vorbei.

Dieser Beitrag stammt aus c’t Retro 2021

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(uma)